Von Amnesty bis zum MDR Guerilla-Mails zum Iran als letztes Mittel der Solidarität
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19. November 2022, 11:23 Uhr
In den vergangenen Wochen haben den MDR mehr als 90.000 Zuschriften mit einem großen Thema erreicht: Der Iran und insbesondere das Schicksal der Menschen, denen dort Todesstrafe droht. Die Schreiben ähneln sich, die Vorlagen der meisten kursieren unter anderem in Telegram-Kanälen. Solche Mail-Aktionen sind für viele Menschen eine der wenigen Handlungsoptionen, überhaupt ihre Solidarität auszudrücken.
- Diaspora-Communities beteiligen sich besonders stark an Medienkampagnen und klären als Experten auf.
- Vorlagen für Protestmails werden dezentral etwa über Telegram gestreut.
- Sorge vor Massenhinrichtungen rufen Erinnerungen an 1988 hervor.
Die Journalistin Niloofar Hamedi war die erste, die das Bild von Jina Mahsa Amini verbreitete und damit auf den gewaltsamen Tod der 22-jährigen iranischen Kurdin in Polizeigewahrsam hinwies. Elahe Mohammadi, ebenfalls Journalistin im Iran, berichtete später von der Beerdigung Aminis. Beide Frauen sind seit Wochen inhaftiert, das iranische Regime wirft ihnen vor, für ausländische Geheimdienste wie CIA und Mossad tätig zu sein. Todesurteile gegen die Journalistinnen gelten damit als sehr wahrscheinlich.
Die Namen hinter den Schicksalen im Iran
Das Schicksal von Hamedi und Mohammadi ist auch Inhalt von E-Mails, die den MDR in den vergangenen Wochen in zehntausendfacher Zahl erreicht haben. Fünf verschiedene Standardtexte lassen sich dabei herauskristallisieren, die von verschiedensten Absendern seit Mitte Oktober eingegangen sind – zwei der Schreiben auf Deutsch, drei in englischer Sprache.
Besonders häufig eingegangen ist ein Schreiben mit dem Betreff "Critically Urgent Call to Action: Iran’s Death Row" (Dringlicher Aufruf zum Handeln: Irans Todestrakt). Erstmals erreichte eine solche Mail den MDR am 9. November, also wenige Tage nachdem 227 der 290 iranischen Parlamentsmitglieder dafür votiert hatten, die Protestierenden als "Mohareb" (etwa: Krieger gegen Gott) zu verurteilen, eines der härtesten Urteile nach iranischem Recht. Seitdem wächst international die Sorge vor massenhaften Todesurteilen gegen Iranerinnen und Iraner, die sich an Protesten beteiligt haben oder denen das Regime eine solche Beteiligung unterstellt. Erste Todesurteile wurden bereits verhängt.
Insgesamt gingen beim MDR bis Freitagmittag mehr als 90.000 Mails mit einem der fünf standardisierten Texte zum Iran ein, davon allein das Schreiben zu "Irans Todestrakt" fast 85.000 Mal. Neben den bereits genannten Journalistinnen werden darin eine Reihe weiterer politischer Häftlinge im Iran genannt: etwa die zum Tod verurteilten LGBTIQ-Aktivistinnen Zahra Seddiqi Hamedani und Elham Choubdar und der Rapper Toomaj Salehi.
Vereinzelt wurde zwar in deutschen und internationalen Medien über deren Schicksale berichtet. Im Gegensatz zu Jina Mahsa Amini, deren Tod in Polizeigewahrsam Mitte September die jüngste Protestwelle im Iran ausgelöst hatte, dürften die Namen anderer Iranerinnen und Iraner hierzulande den meisten Menschen aber unbekannt sein.
Diaspora-Community macht Proteste hier anknüpfungsfähig
Dass nun besonders Exil-Iranerinnen und –Iraner mit E-Mail-Kampagnen auf das Schicksal der Menschen im Iran hinweisen, findet der Konfliktforscher Dr. Jannis Grimm von der FU Berlin wenig erstaunlich. Ähnliche Entwicklungen ließen sich bereits früher beobachten, erklärt er: "Die Forschung zum Arabischen Frühling etwa in Libyen, Syrien oder dem Jemen hat gezeigt, dass sich einzelne gut integrierte Diaspora-Communities besonders stark an Lobbying und medialen Aufmerksamkeitskampagnen beteiligen. Und das ist natürlich wichtig, um Themen präsent zu halten, die sonst in einem 'abgeschlossenen Raum' passieren können."
Einzelne gut integrierte Diaspora-Communities beteiligen sich besonders stark an medialen Aufmerksamkeitskampagnen. Das ist natürlich wichtig, um Themen präsent zu halten.
Unabhängig von dieser spezifischen Mail-Aktion: Dass über die aktuellen Proteste im Iran mehr berichtet wird als über vergangene Proteste, liege auch an der Mobilisierung der Diaspora hier, ist sich Grimm sicher: "Wir haben eine gut organisierte, wenn auch heterogene iranische Diaspora in Deutschland, die als Expertinnen und Experten Geschehnisse einordnet." Ob in der Politikberatung, in Thinktanks oder in Medien: sie seien sehr gut integriert und vernetzt "und haben neben Expertise mittlerweile auch Routine darin, politische Proteste im Iran hier anknüpfungsfähig zu machen".
Bei Mail-Kampagnen komme dazu, dass gerade die niedrige Hürde es einer großen Bandbreite an Menschen ermögliche, sich daran zu beteiligen, sagt Grimm. Zugleich böten E-Mail-Kampagnen auch Handlungsoptionen für Leute, die Solidarität ausdrücken wollen und ohnehin sehr geringe Möglichkeiten aus dem Ausland haben.
Von Guardian über Weißes Haus bis zum UN-Menschenrechtskommissar
Der MDR ist dabei nicht der einzige Empfänger der Massenmails zum Iran. Die Mails zu "Iran’s Todestrakt" haben beispielsweise einen offenen Verteiler. Darin enthalten sind internationale Medien wie New York Times, CNN, Guardian, Aljazeera, Volkskrant und La Stampa, einige Journalistinnen und Journalisten sind sogar namentlich adressiert. Zudem ging die Mail an das Weiße Haus in Washington, an das Büro des UN-Menschenrechtskommissars und Amnesty International.
Damit ist ausgerechnet eine Organisation Ziel der Kampagne, die selbst bereits mit ähnlichen Aktionen für Aufmerksamkeit sorgte – der Konfliktforscher Grimm nennt etwa die Briefmarathons von Amnesty zur Freilassung von politischen Gefangenen. Zwar könnten E-Mail-Kampagnen auch mit unlauteren Intentionen verwendet werden, aber eben auch zu konstruktiven, emanzipativen Zwecken. "Da gibt es erfolgreiche Beispiele für einen Aktivismus, der dezentral ist, der aber relativ wenig Ressourceneinsatz braucht, um sich daran zu beteiligen", sagt Grimm.
Ein Telegram-Kanal mit Spezialgebiet Mail-Kampagnen
Wie aber gelangte der MDR in die Verteilerliste dieser Mail-Kampagne? Recherchen von MDR AKTUELL konnten bislang zwar nicht die Ausgangsquelle ausfindig machen, aber zumindest den Verbreitungsweg in Teilen nachvollziehen: So finden sich Vorlagen für zwei der Zuschriften, die den MDR erreicht haben, im Telegram-Kanal "Action4Iran". Der überwiegend farsi-sprachige Kanal mit teils englischen Ergänzungen steht nach eigener Beschreibung der "Mahsa-Amini-Bewegung" nahe und hat sich zum Ziel gesetzt, Druck auf ausländische Institutionen und Entscheidungsträger auszuüben sowie die Kontaktaufnahme mit "Kongress, Universitäten, Medien und Menschenrechtsorganisationen" vorzubereiten.
Die Vorlage für die Mail mit dem Betreff "Critically Urgent Call to Action: Iran’s Death Row" (Dringlicher Aufruf zum Handeln: Irans Todestrakt) wird dort am 9. November geteilt, zusammen mit dem bereits genannten Mail-Verteiler. Bis Freitagmittag wurde der Post weit über 15.000 Mal gesehen – häufiger, als der Kanal zu dem Zeitpunkt Abonnentinnen und Abonnenten hat (rund 3.000). Das Beispiel veranschaulicht, wie dezentral die Mobilisierung der Aktion verläuft. Denn bereits einige Stunden vor dem Post gingen beim MDR erste Mails mit demselben Inhalt ein. Die Vorlage muss also noch an mindestens einer weiteren Stelle geteilt worden sein. Wer den Text als erstes in die Welt setzte und den Verteiler erstellte, bleibt aber im Dunkeln.
Massenhinrichtungen 1988 – ein Trauma wird wieder wach
Bei der Vielzahl der E-Mails, die den MDR erreicht haben, ist es schwierig zu verifizieren, von wem die E-Mails im Einzelnen kommen. Das ist ein grundsätzliches Problem solcher Kampagnen, sagt der Konfliktforscher Grimm. Im Fall der Mails zum Iran liegt es zumindest nahe, dass eine Vielzahl an echten Menschen dahinterstehen, denen die Entwicklungen im Iran sehr wichtig sind. Dass diese Kampagne offenbar bei so vielen Menschen verfangen hat, ist aber nicht von vornherein absehbar.
Die Furcht vor Massenhinrichtungen im Iran dürfte die Mobilisierung zumindest entscheidend vorangetrieben haben. Bei vielen Iranerinnen und Iranern wecken die derzeitigen Entwicklungen traumatische Erinnerungen: Im Jahr 1988 hatte das iranische Regime schon einmal tausende politische Häftlinge hingerichtet – auf Weisung von Ayatollah Ruhollah Khomeini und im selben System, in dessen Kontinuität auch die heutigen Machthaber im Iran stehen. Bis heute sind die Vorgänge von damals nicht aufgearbeitet, selbst die Angaben zu den Zahlen der Ermordeten schwanken je nach Quelle und die Verantwortlichen wurden nie zur Rechenschaft gezogen.
MDR (rnm)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 16. November 2022 | 16:00 Uhr