Corona-Pandemie Ungarn: Wettlauf gegen den Tod
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13. April 2021, 16:37 Uhr
Nirgendwo sterben derzeit mehr Menschen an Covid-19 als in Ungarn – obwohl in keinem Land in der EU so schnell geimpft wird. Doch das Virus trifft nicht alle gleich: Die Roma leiden besonders unter der Pandemie.
Vor kurzem konnte der ungarische Ministerpräsident eine gute Nachricht verkünden: 2,5 Millionen Ungarn haben zumindest ihre erste Impfdosis erhalten, das ist ein Viertel der Bevölkerung. Und: "Ungarn kann und wird das Land in der EU sein, das jedem am schnellsten eine Impfung ermöglicht", sagte Viktor Orbán in einem Video auf seiner Facebook-Seite.
Der Impferfolg in Ungarn ist unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass auch Impfstoffe genutzt werden, die in anderen EU-Ländern nicht zugelassen sind: Sputnik V aus Russland und Sinopharm aus China. Erst vergangene Woche erhielten weitere Vakzine aus Indien und China eine Notzulassung.
Nirgendwo sterben so viele Menschen wie in Ungarn
Die ungarische Regierung ist bei dieser Entscheidung von der Not getrieben, denn das Virus breitet sich rasend schnell in Ungarn aus: Laut einer Erhebung der WHO liegt die Sieben-Tage-Inzidenz aktuell (Stand: 12.4. 2021) bei 354. In der Statistik der Covid-Toten im Verhältnis zur Bevölkerung, nimmt Ungarn hinter Tschechien den zweiten Platz ein: Mehr als 23.400 Covid-Tote hat das kleine Land bereits zu beklagen, das sind mehr als 239 Todesfälle pro 100.000 Einwohner – auf die gesamte Pandemie gerechnet.
Und die Dynamik ist beunruhigend: Denn laut Our World in Data, einem Statistik-Projekt der Universität Oxford, starben in den vergangenen Wochen im Verhältnis zur Bevölkerung weltweit nirgends so viele Menschen an dem Virus wie in Ungarn.
Vor allem die Roma-Minderheit ist betroffen
Vergangene Woche schlugen mehrere Vertreter der Roma-Minderheit Alarm: Gerade die Roma-Gemeinden seien von der Pandemie in besonderer Weise betroffen. Der Bürgerrechts-Aktivist und Rom Aladár Horváth sagte der Presseagentur Reuters, "die Menschen sterben wie die Fliegen", die Roma-Aktivistin Zsanett Bitó-Balogh, sprach mit Blick auf die Pandemie von einer regelrechten "Explosion". Betroffen seien auch jüngere Menschen.
Die Roma-Minderheit lebt oft in großer Armut und in beengten Verhältnissen. Daher kann sich das Virus dort besonders schnell ausbreiten, zumal die Armut auch dafür sorgt, dass der Gesundheitszustand vieler Roma ohnehin schon schlechter ist als der der Durchschnittsbevölkerung.
Gergely Gulyás, der so etwas wie Ungarns Kanzleramtsminister ist, sagte in diesem Zusammenhang, dass sich schließlich auch die Roma impfen lassen könnten. Doch die Impfkampagne macht vielen Roma Schwierigkeiten, da sie oft weder über die technischen Geräte verfügen, die man braucht, um sich sich via Internet für die Impfung zu registrieren, noch die Möglichkeit haben, zu einem Impfzentrum zu reisen. Viele Roma leben in besonders strukturschwachen Regionen, wo es kaum noch Hausärzte gibt. Zur Wahrheit gehört aber auch: Viele Roma hegen nach Jahrzehnten der Diskriminierung ein tief sitzendes Misstrauen gegen Ärzte und gegen die Regierung. Einer Studie der Universität Pécs zufolge wollen sich nur neun Prozent der Roma in Ungarn impfen lassen.
Opposition kritisiert Untätigkeit der Regierung
Die Regierung steht derweil wegen ihres Umgangs mit der Pandemie scharf in der Kritik. In einem gemeinsamen Video der Opposition warf die Parlamentsabgeordnete Tímea Szabó (Párbeszéd) der Regierung Untätigkeit vor und machte Orbán für die hohen Todeszahlen verantwortlich. Er habe die falschen Prioritäten gesetzt: "Anstatt schnell und effektiv Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen, privatisierte Viktor Orbán die Universitäten unter dem Deckmantel der Nacht und schaufelte Hunderte von Milliarden in die Taschen seiner Freunde."
Der Vorsitzende der liberalen Partei Momentum, András Fekete-Győr, sagte, "die mit unbegrenzten Befugnissen ausgestattete Orbán-Regierung" sei verantwortlich für die Tragödien, die sich in der Pandemie abspielten. Sie hätte das Gesundheitssystem seit 2010 "ausgeblutet" und dringend notwendige Reformen verschleppt.
Marodes Gesundheitssystem, überforderte Covid-19-Stationen
In der Tat ist das ungarische Gesundheitssystem schon seit Jahren marode: Es fehlen Geld und qualifiziertes Personal, die Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen sind zum Teil in einem desolaten Zustand, Ärzte und Krankenschwestern wandern seit Jahren in andere EU-Länder ab, wo sie besser bezahlt werden. Jetzt, inmitten der Pandemie, sind die Krankenhäuser überlastet, es fehlt vor allem an qualifiziertem Personal.
Nun hat das Innenministerium mitten in der Pandemie die Rahmenbedingungen für die Arbeit des medizinischen Personals reformiert. Vieles davon wird einhellig begrüßt, etwa das Verbot des in Ungarn üblichen Bestechungsgeldes für Ärzte. Dafür sollen die regulären Gehälter steigen. Doch viele Ärzte und Krankenschwestern wollen ihre neuen Verträge nicht unterzeichnen, weil sie sich durch die Neufassungen schlechter gestellt sehen, und kündigen lieber.
Zwar haben offiziellen Angaben zufolge rund 95 Prozent unterschrieben – das bedeutet aber auch, dass rund 5.500 Ärzte und Krankenschwestern gekündigt haben. "Es ist unfassbar, dass Orbán inmitten einer globalen Pandemie ein Gesetz beschließt, dass zu Massenkündigungen im Gesundheitswesen führt", schimpfte Momentum-Politiker András Fekete-Győr auf Facebook. Er glaube, "dass Ungarn seit dem Systemwechsel keine so dumme Regierung hatte."
Die Presse wird ausgesperrt
So zeichnete die ungarische Ärztekammer (Magyar Orvosi Kamara – MOK) zu Ostern auf ihrer Website ein düsteres Bild der Lage: "Die überwiegende Mehrheit der Krankenstationen sind bereits Covid-19-Stationen, Intensivstationen sind mehrfach belastet, Operationssäle sind geschlossen, dort kämpfen bereits Covid-19-Patienten an den Beatmungsgeräten um ihr Leben".
Wie genau es auf den Covid-19-Stationen aussieht, erfährt die ungarische Öffentlichkeit indes nicht. Die Regierung hat Vertretern der unabhängigen Medien den Zutritt zu den Stationen verboten, auch das Personal darf aufgrund einer Regierungsverordnung nicht mit der Presse reden. Deshalb haben 28 ungarische Medien gemeinsam einen offenen Brief an die Regierung geschrieben, um Zugang zu Krankenhäusern und Impfzentren zu erhalten. Der Mangel an nachvollziehbaren Informationen habe ernsthafte Konsequenzen, argumentieren die Journalisten: Viele Ungarn spielen immer noch die Gefährlichkeit der Pandemie herunter und halten die Schutzmaßnahmen nicht ein. Das führt zu noch mehr Erkrankungen und folglich zu einer Verschärfung der Pandemie.
Regierungssprecher Zoltán Kovács erteilte indes dem Ansinnen der Medien via Facebook eine Absage: "In Krankenhäusern sollte geheilt und nicht gefilmt werden", so Kovács. Die zuständigen Behörden würden die Öffentlichkeit täglich informieren, "die linken Portale dagegen verbreiten Fake News und machen das ungarische Gesundheitswesen schlecht". Die Ärztekammer dagegen würde gerne die Zustände in den Krankenhäusern und den Kampf des medizinischen Personals gegen das Virus dokumentiert sehen.
Trotzdem Lockerungen
Trotz der hohen Inzidenz-Werte sind letzte Woche einige Lockerungen in Kraft getreten: So können Geschäfte wieder zwischen 5 Uhr und 21.30 Uhr öffnen, allerdings darf sich darin nur ein Kunde pro 10 qm Verkaufsfläche aufhalten. Auch Dienstleister wie Kosmetik- und Friseursalons dürfen wieder Kundschaft empfangen, zudem wird die nächtliche Ausgangssperre gelockert und gilt erst ab 22 Uhr. Die Ärztekammer hält diese Lockerungen für verfrüht. Aber immerhin in einem sind sich im tief gespaltenen Ungarn alle einig: Nur mit Impfungen lässt sich die Pandemie besiegen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL– Das Nachrichtenradio | 11. März 2021 | 19:30 Uhr