Ukraine-Krieg Delfinsterben im Schwarzen Meer: Wie der Krieg die Umwelt zerstört
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27. Juni 2022, 13:44 Uhr
In den vergangenen Wochen wurden tausende tote Delfine an die Küste des Schwarzen Meers gespült. Eine Auswirkung des Krieges? Ja, sagen Forscher – und befürchten noch andere langfristige Schäden für die Ökosysteme in der Ukraine.
Ein "Desaster" nennt Iwan Rusew das, was sich derzeit in vielen Küstenregionen am Schwarzen Meer abspielt. Und damit meint der Forschungsleiter des ukrainischen Tuzly Lagunen Nationalparks, südwestlich von Odessa gelegen, nicht nur den Angriffskrieg Russlands gegen seine Heimat. Fast täglich bekommt er Bilder von toten Delfinen zugespielt, die in diesen Tagen in großer Zahl an der Küste des Schwarzen Meers angespült werden.
Das Delfinsterben ist nicht nur auf die ukrainische Küste beschränkt, auch aus Georgien, Rumänien, Bulgarien und der Türkei werden immer wieder neue Fälle von toten Tieren gemeldet. Seit Ende Februar sind Rusew zufolge im Schwarzen Meer mindestens 3.000 Delfine gestorben und angespült worden – doppelt so viele wie normalerweise in einem ganzen Jahr. Die Ursache für das große Delfinsterben ist der Krieg, davon ist der ukrainische Biologe überzeugt.
Massensterben unter Delfinen
"Normalerweise dokumentieren wir 1.500 tote Delfine pro Jahr. Die Tiere verenden meistens in Fischernetzen, werden dann von Fischern freigeschnitten und an Land gespült. Ihre Körper zeigen dann häufig Stichverletzungen auf", so Rusew. Seit Kriegsbeginn ist die Zahl der toten Meeressäuger drastisch gestiegen. Und auch die Todesursachen sind andere. "Die Körper der meisten toten Delfine tragen jetzt entweder Brandwunden, die auf Explosionen von Bomben oder Minen zurückzuführen sind, oder sie weisen gar keine äußerlichen Verletzungen auf", meint Rusew.
Seine Erklärung: Laute Explosionen und militärische Sonare, die für die Ortung anderer Schiffe genutzt werden, verwirren die Delfine, die sich ebenfalls per Sonar orientieren. "Sie haben dann Probleme bei der Nahrungsfindung oder verirren sich in flachem Wasser", so Rusew weiter. Für ihn ist klar: "Die Tiere sterben in Folge russischer Kriegshandlungen im Schwarzen Meer." In den russischen Medien will man davon nichts wissen: Dort wird eine Forscherin zitiert, der zufolge sich die Zahl der bislang aufgefundenen Tiere "im Rahmen der jährlichen Statistik" bewegt.
Nur die Spitze des Eisberges
Welche Auswirkungen der Krieg auf Natur und Umwelt insgesamt haben kann, untersucht derzeit eine Gruppe von Wissenschaftlern im Auftrag des ukrainischen Umweltministeriums. Neben Sonaren und Explosionen stelle das Auslaufen giftiger Raketen- und Schiffstreibstoffe eine weitere Gefahr für die Ökosysteme im Wasser dar, erklärt Pawel Gol´din, Zoologe am Schmalhausen Institut in Kiew und Mitglied des Forschungsteams.
Auch an Land könnte der Krieg die Biodiversität massiv schädigen, befürchten die Forscher. Viele natürliche Lebensräume seien bereits durch Brände und Bombardierungen zerstört worden. "Besonders die Feuchtgebiete an der Küste, ein wichtiger Rückzugsort für viele Vögel, sind bedroht", meint Gol´din. Beispielhaft dafür steht insbesondere die Region am Asowschen Meer nordöstlich der Halbinsel Krim. Sie gilt als Brutgebiet für Gänse, Seetaucher, Seeschwalben und Enten. Deren Verbreitungs- und Wandergebiet führt von dort Richtung Nordwesten, entlang des Dnjepr bis nördlich von Kiew an die Grenze zu Russland und damit erneut in umkämpftes Gebiet. Dass der Krieg Auswirkungen auf das Brutverhalten, den Artenbestand oder die Wanderung der Tiere hat ist denkbar – aber aktuell unerforschbar.
Naturschutz im Krieg? Ein schwieriges Unterfangen
Für die Naturschützer ist die Situation ein Dilemma: "Genaue Zahlen, in welchem Maße die Natur und die Tiere unter dem Krieg leiden, können erst nach dem Krieg erhoben werden", erklärt Iwan Timofeiw vom Naturschutzbund (NABU) in der Ukraine. Denn etwa 50 bis 60 Prozent aller ukrainischen Naturschutzgebiete sowie drei Nationalparks liegen in den derzeit von Russland besetzten oder den umkämpften Gebieten. So bleibt nur die Dokumentation aus der Ferne und vor drohenden Gefahren zu warnen – und selbst dafür fehlen im Krieg Ressourcen und Mitarbeiter. Die Gebäude der Nationalparkverwaltung dienten zwischenzeitlich gar als Flüchtlingsunterkunft.
Ökozid als Kriegsverbrechen?
Damit Umwelt- und Tierschutz auch in Kriegszeiten möglich bleibt, müsse auf internationaler Ebene eine Rechtsgrundlage geschaffen werden, forderte der International Fund for Animal Welfare (IFAW), eine international operierende Tierschutzorganisation mit Hauptsitz in Kanada, jüngst. Außerdem müsse "Ökozid" in den Statuten des Internationalen Strafgerichtshof als weiterer Straftatbestand in einem Krieg ergänzt werden.
In einer Studie warnt der IFAW zudem vor einer weiteren Gefahr für Wildtiere in der Ukraine, die vor allem aus Kriegsgebieten auf dem afrikanischen Kontinent bekannt ist: Wilderei. Denn unkontrollierter Waffenbesitz und der Bedarf der Kämpfer an Nahrung und Geld führten der Organisation zufolge regelmäßig dazu, dass Tiere vermehrt gejagt werden. Ein weiterer Punkt auf einer schier endlosen Liste an zu befürchtenden Auswirkungen des Krieges auf die Natur und Tierwelt in der Ukraine.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | BRISANT | 30. März 2022 | 17:42 Uhr