Serbien Warum immer mehr Serben nicht mehr in die EU wollen
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08. Mai 2023, 14:18 Uhr
Die Mitgliedschaft in der EU bescherte vielen Ländern Osteuropas einen Modernisierungsschub: neue Autobahnen, Klärwerke, herausgeputzte Altstädte. Beim Beitrittskandidaten Serbien sind immer mehr Menschen bereit, auf diese Zukunftschance zu verzichten - um weiter ihre nationalistischen Träume von einem serbischen Kosovo und einer Freundschaft mit Russland träumen zu können. Antiwestliche Parteien sind im Aufwind. Für Präsident Vučić ist das ein Problem - ein selbstverschuldetes.
Niemand hat es im Wahlkampf zu Jahresbeginn 2022 kommen sehen. In Serbien dominierten zu dieser Zeit ökologische, wirtschaftliche und soziale Themen. Meinungsumfragen deuteten einen Aufschwung links-grüner Parteien an. Doch dann griff Russland die Ukraine an, und alles stand plötzlich Kopf. Die meisten politischen Parteien in Serbien konnten ihre Wahlkampagnen nicht so schnell der neuen Situation anpassen.
Doch für Serbiens "patriotische Parteien" war das genau der Treibstoff, den sie brauchten. Denn sowohl die regierenden Parteien als auch die bürgerliche Opposition äußerten sich nur halbherzig zum Ukraine-Krieg, um ja nicht die westlichen "Partner" zornig zu machen, aber gleichzeitig auch nicht die Gunst der überwiegend prorussischen Wähler zu verlieren.
Ganz anders gaben sich aber die "richtigen" Patrioten: Sie lieben ihren Putin, können den "heuchlerischen" Westen, "der uns bombardiert hat", nicht ausstehen, und sie sagen das auch laut und unmissverständlich.
Nationalisten im serbischen Parlament
Und so marschierten sie ins serbische Parlament - die Patrioten, die Russlandliebhaber, Putin-Verehrer, Amerikahasser, Europakritiker, die Beschützer des Kosovo, dieser "heiligen" serbischen Erde, die der Westen den Serben mit Gewalt entwendete und dessen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen allein die orthodoxe Schutzmacht der Serben, Mütterchen Russland, mit seinem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat verhindert.
Die "Patrioten" errangen nur 40 der 250 Mandate - doch es reichte, damit die dominierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) von Staatspräsident Aleksandar Vučić mit ihren traditionellen Koalitionspartnern die absolute Mehrheit verliert. Und die Popularität des "Patriotischen Blocks" wächst kontinuierlich, ihm scheint die serbische Zukunft zu gehören.
Vučić-Partei schießt unter die Gürtellinie
Aussagekräftige Meinungsumfragen gibt es nicht, aber wo es lang geht auf der politischen Szene Serbiens, belegen deutlich die organisierten Hetz- und Hasskampagnen der Regierungspartei SNS in den staatsnahen Medien: Wer von der politischen Konkurrenz an Popularität gewinnt, auf den wird sofort, vorbeugend und gnadenlos aus allen Rohren gefeuert.
Die Zielscheibe sind dieser Tage die Parteien Dveri, Zavetnici, Neue Demokratische Partei Serbiens (Neue DSS) und die Bewegung der Erneuerung des Königreichs Serbiens (POKS). Sie bezeichnen sich selbst als "staatstragende" Opposition oder als "Patriotischer Block". Und sie bieten jedem die Stirn, der auch nur im Entferntesten daran denkt, in Sachen Kosovo selbst nur um einen Millimeter nachzugeben.
Gegen einige Politiker aus Vučićs nationalistischer Konkurrenz gerichtete Plakate und Graffiti erschienen vor Kurzem in allen serbischen Städten. Der Staatspräsident und seine Gefolgschaft versäumen keine Gelegenheit, sie als "unverantwortliche Heuchler" und "falsche Patrioten" zu bezeichnen, die die Serben in den Krieg um das Kosovo hineinziehen. Außerdem seien sie dafür, mit der Europäischen Union zu brechen, was Serbien wirtschaftlich ruinieren würde. Mit denselben Methoden gingen die SNS-Strategen früher die prowestliche, bürgerliche Opposition an, doch von der droht inzwischen keine Gefahr mehr.
"Patrioten" sprechen von Hochverrat an Serbien
Die "Patrioten" nehmen das alles kampflustig hin, schreien "Verrat!", werfen Staatspräsident Vučić vor, das Kosovo "verkaufen" zu wollen, kündigen das Flattern serbischer Fahnen im Kosovo und das Ende der westlichen Knechtschaft an.
Die Erklärung für den Aufschwung der antiwestlichen, serbischen Kosovo-Verteidiger ist eigentlich plausibel: Je größer der Druck des Westens auf Serbien und Vučić wird, sich mit der Unabhängigkeit des Kosovo abzufinden und endlich Russland-Sanktionen einzuführen, desto größer wird die Trotzreaktion der Serben, die diese "unfairen" Forderungen nicht nachvollziehen können.
Unter großem, koordinierten Druck der EU und der USA willigte Vučić in einen "europäischen Kosovo-Plan" ein, der de facto eine indirekte Anerkennung des Kosovo darstellt, weil er von einer kosovarischen Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, also auch in der UN, ausgeht. "Hochverrat!", schrien abermals die Patrioten, diesmal noch lauter als sonst.
Nationalisten: Klare Kante gegen den Westen
Die SNS als eine übermächtige, im Grunde genommen ideologielose, populistische Partei, die alle ansprechen will, verliert nach einem Jahrzehnt an der Macht bei ihren Wählern an Glaubwürdigkeit. Grund ist die Politik ihres Parteichefs und Staatspräsidenten Vučić, der zwischen Ost und West, zwischen der EU und dem Kosovo, zwischen Moskau und Brüssel balanciert. Er gibt sich an einem Tag als größter, kämpferischer Nationalist, und am nächsten als überzeugter Europäer und Friedensstifter. Kurzum: Er versucht, alle glücklich zu machen, und so werden viele unglücklich mit ihm.
Die "Patrioten" andererseits haben eine allen einleuchtende, klare Ideologie. Sie treten ein für eine Partnerschaft mit Russland und gegen eine Mitgliedschaft in der EU, für eine kompromisslose Verteidigung des Kosovo als untrennbaren Bestandteils Serbiens, für die "traditionelle" Familie und gegen gleichgeschlechtliche Ehen (und überhaupt gegen jegliche Form von LGBTQI-Gleichberechtigung), für christlich-orthodoxe Werte und gegen Liberalismus.
Mit der Parole "Nein zum Ultimatum, nein zur Kapitulation!" penetrieren sie so in das größte Wählerreservoir der SNS, die ursprünglich aus einer rechtsextremistischen, chauvinistischen Partei hervorgegangen ist.
Vučić will mit Westen-Schelte nachziehen
Das Problem mit der "patriotischen" Konkurrenz hat Präsident Vučić ein Stück weit sich selbst zu verdanken. Man könnte sagen, dass er ihrer Ideologie selbst den Weg geebnet hat. Um in Serbien souverän herrschen zu können, gab er die Mitgliedschaft Serbiens in der EU stets als außenpolitische Priorität an, schürte aber innenpolitisch gleichzeitig eine antiwestliche Stimmung. So hielt er die national gesinnten Wähler bei der Stange und lieferte dem Westen gleichzeitig das, was der Westen eben gern hört.
Tatsache ist, dass die meisten Serben die Unabhängigkeit des Kosovo als eine gewaltige historische Ungerechtigkeit empfindet und sich fragt: Wenn Russland die Krim nicht annektieren darf, warum dürfen Nato-Staaten das Kosovo, serbisches Territorium, Serbien wegnehmen? Darauf reagiert Präsident Vučić nun. Er versucht, den Imageschaden wiedergutzumachen und den "Patrioten" Paroli zu bieten, indem er Vertreter des Westens hinsichtlich der Kosovo-Frage als "Heuchler" und "Lügner" bezeichnet.
Selbst wenn er wollte, könnte er es sich innenpolitisch nicht leisten, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen und mit Moskau zu brechen. Der Aufmarsch "patriotischer" Parteien droht unterdessen, wieder einmal, das ganze Land in einen wirklichkeitsfremden nationalen Romantismus mit unabsehbaren Folgen zu stürzen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 06. Mai 2023 | 07:17 Uhr