Kriegsdienstverweigerer Serbien: ein Paradies für Russen auf der Flucht
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07. Oktober 2022, 13:13 Uhr
Für einen jungen Russen, der mit Putins Krieg nichts zu tun haben möchte, der nicht auf Ukrainer schießen will, ist Serbien das ideale Fluchtziel. Für Serbien brauchen Russen kein Visum, in den Großstädten herrscht eine westliche Stimmung, von sehr guten Internetverbindungen bis zu japanischen Restaurants finden sie in Belgrad oder Novi Sad so ziemlich alles, was das Herz begehrt. Und das Sahnehäubchen: Die Serben sind slawisch-orthodox und meist russenfreundlich.
Außerdem ist Serbien das einzige europäische Land, das keine Sanktionen gegen Russland verhängt hat, offen nicht nur für russische Durchschnittsbürger und Kriegsdienstverweigerer, sondern auch für die Reichen und ihr Geld – auch für jene, die sich auf Sanktionslisten des Westens befinden.
Ein Paradox ist, dass die meisten Russen, die seit Anfang des Jahres nach Serbien ziehen, Putin-Gegner sind, und die Serben den mächtigen slawischen Bruder lieben. Im Alltag stört das niemanden, im Gegensatz zu den Deutschen oder den Finnen, lächelt ein Durchschnittsserbe, wenn er Russisch hört. Und man hört Russisch immer öfter und immer lauter: auf der Straße, in Restaurants oder Nachtclubs. Ein Vorteil für diejenigen Russinnen und Russen, die länger in Serbien bleiben möchten ist, dass sich die Sprachen ähnlich sind – sie können also schnell Serbisch lernen.
Zwei bis drei Flüge aus Russland pro Tag
Und so kommen sie Scharenweise nach Serbien – diejenigen, die sich das teure Leben in serbischen Großstädten leisten können und ein Ticket für die restlos ausgebuchten Flüge nach Belgrad ergattern konnten. Zwei bis drei Flüge gibt es täglich aus Russland nach Belgrad.
Der Immobilienmarkt boomt dementsprechend. Am begehrtesten sind vollmöblierte Wohnungen mit drei Zimmern in guten Stadtteilen, die meistens für ein Jahr gemietet werden, erzählen Immobilienmakler. Die werden locker für über 1.000 Euro pro Monat vermietet. Die Mietpreise sind um gute 40 Prozent gestiegen.
Zehntausende Russen bereits in Serbien
Serbische Medien schätzen die Anzahl der bisher angekommenen Russen auf 30.000-50.000. Offizielle Angaben gibt es nicht. Sicher ist, dass in den vergangenen Monaten über 1.000 russische Unternehmen im serbischen Wirtschaftsregister eingetragen wurden, größtenteils IT-Firmen.
Die serbische Ministerpräsidentin Ana Brnabić spielt die Zahlen herunter. Seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 seien nach Serbien nur 12.000 Russinnen und Russen eingereist, sagt sie. 6.500 hätten ein Arbeitsvisum bekommen, 3.500 eine Aufenthaltsgenehmigung, und noch etwa 1.800 hätten sich für eine Arbeitsgenehmigung beworben. Glauben schenkt ihr aber kaum jemand: Die autokratische serbische Regierung erwartet oft von ihren Bürgern, nicht den eigenen Augen zu trauen, sondern zu glauben, was ihnen über regierungstreue Medien serviert wird.
Spagat zwischen Russland und der EU
EU-Beitrittskandidat Serbien irritiert die Europäische Union und die USA mit seinen betont freundlichen Beziehungen und der strategischen Partnerschaft mit Moskau, von der Belgrad auch während des Ukraine-Krieges nicht loslässt. Immer lautere Kritik kommt von allen Seiten, und im Europaparlament soll in Kürze eine Resolution verbschiedet werden, die fordert, den Integrationsprozess Serbiens zu blockieren, bis es endlich Sanktionen gegen Russland verhängt. Der serbische Seiltanz zwischen Ost und West scheint an seinem Ende angekommen zu sein. Staatspräsident Aleksandar Vučić kündigte für den 8. Oktober eine historische Ansprache an das Volk an. Solche Reden hält er allerdings des Öfteren.
Sollte sich die Staatsführung entgegen dem mehrheitlichen Willen des Volkes endgültig dem Westen zuwenden, wären die Russen in Serbien sicher. Wenn nicht, dann bleibt die Frage offen, was mit jenen, die in Russland hätten einberufen werden sollen, passiert. Offiziell wurde das bisher nicht thematisiert.
Was passiert mit wehrpflichtigen Russen in Serbien?
Einige serbische Medien behaupten, der serbische Geheimdienst BIA würde die russische Diaspora in Serbien bespitzeln und den Kollegen vom russischen FSB Berichte darüber schicken. Serbiens Innenminister Aleksandar Vulin war neulich, wieder einmal, in Moskau. Das könnte man als Beleg für diese Behauptung sehen. Vulin ist unverhüllt für Putin und gegen den Westen.
Wie Serbien auf eine direkte Forderung des Kremls, russische Kriegsdienstverweigerer auszuweisen, reagieren würde, darüber könne man momentan nur spekulieren, sagt Vuk Vuksanović vom Belgrader Zentrum für Sicherheitsstudien. Jedenfalls wäre das für Serbien "sehr unangenehm".
Das Problem für serbische Entscheidungsträger ist: Der Geldbeutel befindet sich in der EU und der Gashahn in Moskau. Noch wichtiger aber: Ein Jahrzehnt lang wurde der Boden der öffentlichen Meinung für nun aufblühende, rechtspopulistische, prorussische Parteien bereitet. Eine Zuwendung zum Westen würde die Popularität des Staatspräsidenten massiv einbrechen lassen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 29. September 2022 | 19:30 Uhr