Russland - Putinland Putins Russland: Machtpolitik und Großrussland-Fantasien
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11. März 2022, 05:00 Uhr
Russland ist gleich Putin. So scheint es. Der Präsident ist allmächtig und omnipräsent. Wie hat sich das Riesenreich nach dem Zerfall der Sowjetunion und den chaotischen 1990er-Jahren unter seiner Herrschaft verändert? Dr. Immo Rebitschek forscht an der Uni Jena zu Themen um Osteuropa und gilt als Russlandexperte. Er erklärt, welche Strategien hinter Putins Schritten stecken.
Putin vollendet, was Boris Jelzin begann: die Umformung des russischen Staates zu einem autoritären Präsidialregime. Es sei ein Irrtum, in Jelzin und dem Putin der Jahrtausendwende Demokraten, gar "lupenreine Demokraten" zu sehen. Das bestätigt auch Dr. Immo Rebitschek, Osteuropahistoriker an der Uni Jena.
Also das ist kein Bruch in dem Sinne, dass Putin irgendwie den Bruch von der parlamentarischen Demokratie zu präsidialen Autokratie hingelegt hätte.
Alle Macht dem Präsidenten
Schon Jelzin höhlt mit politischen Kniffen wie der Auflösung des Kongresses der Volksdeputierten und dem Beschuss des Parlamentsgebäudes 1993 die Verfassung aus. Er inszeniert sich als starker Präsident, der über den Gesetzen steht.
"In der Verfassung war - ausgehend vom Präsidenten - schon eine starke Machtvertikale angelegt, die durch Gewaltenteilung nicht grundsätzlich in Check gehalten oder eingehegt wird. Gewaltenteilung soll vor allen Dingen der effektiveren Durchsetzung staatlicher Macht dienen. Darin spiegelt sich ein grundsätzliches Verfassungsverständnis der russischen Führung", sagt Dr. Immo Rebitschek von der Uni Jena.
Ein Verfassungsverständnis mit einer langen Tradition in Russland. Während in Westeuropa die Herrschaft der Könige begrenzt wird, bleibt der Zar unumschränkter Herrscher über Land und Leute. Mit dem Leninschen Prinzip des "demokratischen Zentralismus" setzen die Bolschewiki die Idee des Regierens von oben nach unten fort. Der Hallenser Russlandhistoriker Hartmut Rüdiger Peter fragt schon 2017:
... ob zwischen der zentralen Rolle des Selbstherrschers im zaristischen russischen Imperium und der zentralen Rolle des Generalsekretärs nicht auch eine ungebrochene Linie besteht und ob nicht tatsächlich von wesentlicher Bedeutung ist, dass andere Formen von Herrschaft eben nicht eingeübt wurden.
Es gab die Momente des Parlamentarismus in der russischen Geschichte durchaus: Die erste und zweite Staatsduma 1906, die Konstituante nach der Februarrevolution 1917 oder die freien Wahlen zum Volksdeputiertenkongress 1989. Nur all diese Versuche, den Parlamentarismus dauerhaft zu etablieren, scheiterten. Immo Rebitschek sagt dazu:
Die Begründung Putins ist, dass ein Vielvölkerreich wie Russland letzten Endes nicht für Parteienpluralismus und ein dominantes Parlament geschaffen sei. Eine starke Exekutive müsse quasi Vorrang haben, um die wirtschaftliche Entwicklung des Staates zu sichern, bevor man überhaupt über partizipative Elemente und ein dominantes Parlament nachdenken könne.
Putins Aufstieg zum uneingeschränkten Herrscher
Wladimir Putin treibt dieses Verfassungsverständnis auf die Spitze, indem er die verfassungsmäßigen Aufgaben von Judikative und Legislative immer weiter aushöhlt. Es sind eher kleine Zäsuren als große Wegmarken, die den Aufstieg Putins zum unumschränkten Herrscher markieren. Beide Prozesse gegen den politisch aktiven Oligarchen Michail Chodorkowski (2003 und 2010) ignorierten prozess- und strafrechtliche Standards und dienten allein dazu, einen potenziellen Konkurrenten auszuschalten. Andere, wie Boris Nemzow, werden ermordet. Seit dem Wahlsieg seiner Partei "Einiges Russland" 2003 diktiert die Präsidialadministration dem Parlament quasi die Gesetzesentwürfe. 2020 wird die Verfassung so geändert, dass Putin bis 2036 regieren könnte. Die Abstimmung dazu ist manipuliert, so wie alle Wahlen seit Putins Machtantritt.
Man braucht sich nicht der Illusion hinzugeben, dass Putin irgendwann in seiner Amtszeit den Parlamentarismus verraten hätte. Er hat von Anfang an nicht viel davon gehalten.
Putinland: Proteste? Fehlanzeige
Leichen pflastern Putins Aufstieg zum unumschränkten russischen Machthaber. Und das ist im Unterschied zu westlichen Politikern nicht metaphorisch, sondern wörtlich zu verstehen.
Boris Nemzow wird 2015 erschossen. Der einstige Unterstützer Putins hatte sich zu einem seiner schärfsten Kritiker gewandelt. Die Journalistin Anna Politowskaja kritisiert Putins Tschetschenienkrieg und wird 2006 erschossen. Der Öl-Oligarch Michail Chodorkowski wird in einem Schauprozess zu Lagerhaft verurteilt, nach dem er sich gegen Putin stellte. Selbst im Ausland sind Putins Gegner nicht sicher, wie die Morde im Berliner Tiergarten an Selimchan Changoschwili und in London an Sergej Skripal zeigen. Jüngstes Beispiel: die Vergiftung Alexej Nawalnys.
Putin nutzt politische Attentate schon seit mehreren Jahrzehnten.
Die Auftragsmorde und Mordversuche sind die brutale Seite von Putins Herrschaftstabilisierung. Ebenso wichtig sind die gezielte Desinformation und die Gleichschaltung der Medien. Gegner werden als Vaterlandsverräter, als westliche Agenten verunglimpft. Auch zivilgesellschaftliches Engagement wird abgewürgt. NGOs wie Memorial gelten unter Putin als "feindliche Agenten". Das alles sorgt für eine Friedhofsruhe wie zu tiefsten Sowjetzeiten.
Das ist etwas, was Putin von Anfang an verfolgt: das politische Alternativen keine Chance haben, sich fest sich zu etablieren. - Also Kräfte zu bündeln und politische Alternativen aufzuzeigen, das war quasi de facto unmöglich.
So gibt es kaum Proteste gegen den Krieg in der Ukraine. Geschichtsfan Putin weiß gewiss, die Proteste gegen den Afghanistan-Krieg destabilisierten einst die Sowjetunion. Das sich Geschichte wiederholt, will er um jeden Preis vermeiden.
Russische Interessen und Machtpolitik
Der Untergang der Sowjetunion war laut Wladimir Putin "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Das verkündete er 2005. Doch nicht erst seit damals versucht er, das Sowjetimperium zu reanimieren. Putins erste Amtshandlung als Präsident: Er fliegt noch in der Silvesternacht 1999 nach Tschetschenien. Die einst autonome Sowjetrepublik erklärte 1991 ihre Unabhängigkeit, drei Jahre später marschiert die russische Armee ein, um in zwei Kriegen bis 2009 das Land unter russische Hoheit zu zwingen.
Putin hat den Kurs, russische Interessensphären mit militärischer Gewalt an einer umstrittenen Peripherie durchzusetzen, von Anfang an aktiv mitgestaltet.
Das gleiche gilt für den Krieg mit Georgien, der schon 2008 das Muster des Ukraine-Konflikts vorwegnimmt. Damals unterstützen die Russen die nach Autonomie strebenden Regionen Abchasien und Südossetien und heizen so den Konflikt mit dem westlich orientierten Präsidenten Michail Sakaschwili an. Ähnlich schürt Moskau Spannung in Transnistrien, einem Teil Moldaus.
Dass Putins Denken um Einflusssphären und Machtverhältnisse kreist, zeigt auch seine heftig beklatschte Rede im Deutschen Bundestag von 2001, sagt Immo Rebitschek. Auffällig sei an seinem damaligen Bekenntnis zum europäischen Haus, dass er nur von Deutschland und Russland spricht.
Ostmitteleuropäische Souveränität oder Staatlichkeit spielte keine Rolle. Das betrifft nicht nur die Ukraine, das ist generell die Überzeugung, dass Deutschland und Russland als Großmächte quasi ihre Interessen übergeordnet verhandeln müssen und der ostmitteleuropäische Raum steht dem hintenan. Und Deutschland hat diese Sicht sehr lange toleriert.
Als die baltischen Staaten 2004 der NATO beitreten, schweigt Putin auffällig, redet gar von frei wählbaren Bündnissen, die jedes Land eingehen kann.
Andererseits begründet Putin das Eingreifen in Georgien mit einer militärischen Bedrohung durch die NATO. Zum dominierenden Narrativ wird die Gefahr aus dem Westen erst ab 2012.
2011/12 ist das erste große innenpolitische Krisenjahr. Putin ist mit massiven Protesten im Zuge der Duma-Wahlen konfrontiert. Vor diesem Hintergrund muss man bedenken, dass er auf der Suche nach Narrativen und Lesarten war, hinter denen er einen großen Teil der Bevölkerung versammeln könnte. Und die Bedrohung einer westlichen Militärallianz, die wie zu sowjetischen Zeiten quasi an der Haustür Russlands steht, kam ihm sehr gelegen. Die Entwicklungen auf dem Kiewer Majdan 2013 befeuerten die Sorge im Kreml zusätzlich – vor demokratischem Massenprotest.
Seither beherrscht die Erzählung von einer angeblichen Einkreisung Russlands durch die NATO, von der Bedrohung durch die NATO den russischen außenpolitischen Diskurs und führt immer wieder zum Militäraktionen - in Kasachstan und nun in der Ukraine.
Putinland: Großrussische Träume und Nazis überall
Es ist die ganz große historische Keule, die Wladimir Putin schwingt, um seinen Einmarsch zu rechtfertigen. Wieder einmal muss Russland vor den Faschisten gerettet werden.
Wir werden uns bemühen, eine Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine zu erreichen.
Putin knüpft damit an den Mythos des Großen Vaterländischen Krieges an, der in Russland noch immer populär ist. Die Behauptung, es mit Nazis oder Faschisten zu tun zu haben, ist ein gängiger Vorwurf, um politische Gegner zu diffamieren, sagt Dr. Immo Rebitschek.
Er ist beliebig einsetzbar, um Gegnerschaft zu Russland in einen historischen Kontext oder in eine Kontinuitätslinie mit den Verteidigern des Vaterlandes im Großen Vaterländischen Krieg zu stellen. Das heißt, die Feinde Russland sind per Definition also Nazis.
Ob die Russen tatsächlich glauben, die Ukraine werde von Nazis beherrscht, ist aber zu bezweifeln. Weil jeder zum Nazi erklärt werden könne, sei der Begriff semantisch völlig ausgehöhlt, urteilt der Jenaer Osteuropahistoriker. Ein geschlossenes Weltbild sieht er bei Putin nicht, wohl aber gewisse Leitlinien. Die wichtigste ist die eigene Machtsicherung, für die er Feinde innerhalb und außerhalb des Landes konstruiert, um als starker Mann Russland zu schützen. Eine zweite Linie ist die historische Macht "Großrussland", die er wieder herstellen will. Dazu gehört, Weißrussen und Ukrainer nicht als eigenständige Nationen anzusehen.
Putin hat das schon so oft gesagt: Russen und Ukrainer sind eine Nation. Sie gehören zusammen. Ein Volk, Ein Reich, Ein Führer.
So bringt es russische Journalist und Militärexperte Pawel Felgenhauer auf den Punkt. Putin beschwört oft diese "russkij mir", die russische Welt. Er behauptet schon immer, Belarus, Ukraine und Russland seien ein gemeinsamer Kulturraum unter russischer Dominanz gewesen.
Wenn es ihm passt, greift er auch auf Versatzstücke der "Eurasien-Theorie" des Philosophen Alexander Dugin zurück, der einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen einem "liberal-kosmopolitischen und dekadentem Westen" und einem nationalkonservativem, traditionelle Werte verteidigenden eurasischen Russland behauptet.
Zugleich bin ich der Meinung, dass Putin vor allen Dingen ideologische, historische Versatzstücke nutzt, wie es ihm passt, um sein militärisches und politisches Vorgehen zu rechtfertigen. Eine Ideologie im Sinne eines geschlossenen Weltbildes, dem Putin quasi streng folgt, gibt es aus meiner Sicht nicht.
Der Öl-Rubel rollt (noch)
"In Russland herrscht zwar irgendwie Kapitalismus, aber es gibt keine Kapitalisten. Die russischen Oligarchen, das sind keine Kapitalisten, das sind einfach Diebe", lässt Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch einen Protagonisten ihres Buches "Secondhand-Zeit" über die 1990er-Jahre sagen. - Eine weitverbreitete Stimmung unter den Russen. Eine Privatisierung ohne institutionelle Voraussetzung hatte einige Männer sehr reich, die Massen der Russen arm werden lassen. Es entsteht eine neue soziale Gruppe: die Oligarchen. Superreiche Männer mit engen Verbindungen zur und Einfluss auf die Politik.
Unter Putin hat sich grundsätzlich daran nichts geändert. Auch wenn einige Oligarchen, wie der damals reichste Mann Russlands Michail Chodorkowski, spektakulär wegen Betrugs und Steuerhinterziehung vor Gericht landen. Doch das sind politisch motivierte Prozesse, die Putins Machtsicherung dienen. Wer sich nicht mit dem neuen mächtigsten Mann im Staat anlegt, darf seine Gewinne behalten und weiter Geschäfte machen.
Putin hat die marktwirtschaftlichen Reformen weitergetragen, die unter Jelzin schon angestoßen wurden. Der Fokus blieb auch immer auf dem Rohstoffexport. Das war und blieb von Anfang an die wichtigste Säule russischer Wirtschaftspolitik.
Rohstoffpreise spülen Geld in russische Kassen
Putin hat Glück: Ein starker Anstieg der Rohstoffpreise spült viel Geld in die russische Staatskasse. So können Gehälter und Renten wieder pünktlich ausgezahlt und angehoben werden. Die massenhafte Verelendung breiter Bevölkerungskreise wird gestoppt. Die wirtschaftliche Verbesserung bringen viele Russen mit Putin in Verbindung.
Eine Modernisierung der Industrie gelingt aber nicht, abgesehen von Teilen der Rüstungsindustrie. Russland bleibt ein Land, das Rohstoffe exportiert und Industriegüter importiert. Daran hat sich auch unter Putin nichts geändert.
Dr. Immo Rebitschek ist seit Oktober 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der FSU Jena. 2017 war er Stipendiat des Deutschen Historischen Instituts Moskau. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Imperialer Zusammenbruch, Revolution und Bürgerkrieg in Russland, Hungersnöte und Agrarkrisen im ausgehenden Zarenreich, Ukrainische Staats- und Nationsbildungsprozesse im 20. Jahrhundert, Stalinismus und Entstalinisierung, Strafjustiz in der Sowjetunion, Kollaboration und Strafverfolgung während und nach dem Zweiten Weltkrieg