Russland Russland: Putins Antikorruptionspolitik versetzt Bürgermeister in Angst
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03. Dezember 2020, 13:27 Uhr
In Russland muss sich jeder siebte Bürgermeister im Laufe seiner Karriere vor der Justiz rechtfertigen. Immer öfter kommt es vor, dass sich kaum noch Bewerber für frei werdende Bürgermeisterposten finden.
Wenn Juri Grischan über die Probleme seiner Stadt spricht, braucht er einen langen Atem: chronischer Geldmangel, sinkende Einwohnerzahlen, marode Infrastruktur, fehlende Perspektiven. All die Probleme konnte auch er als Bürgermeister von Magadan in den vergangenen fünf Jahren nicht lösen. Und kaum jemand kann derzeit wohl besser nachvollziehen, warum die Stadt an der russischen Pazifikküste seit Wochen für ihn keinen Nachfolger findet. "Man muss schon verrückt sein, um eine solche Stelle anzunehmen", sagt Grischan, der sich mit 63 Jahren am liebsten zur Ruhe setzen würde.
Ende Oktober verstrich die erste Bewerbungsfrist, ohne dass sich auch nur ein einziger Kandidat um den Posten des Bürgermeisters beworben hätte. In Magadan wird der Bürgermeister, wie in vielen kleineren Städten, von den Stadtabgeordneten gewählt. Das lokale Parlament beschloss, die Frist für die Kandidaten bis Dezember zu verlängern.
Tatsächlich wirkt die Stadt Magadan selbst im Vergleich zu anderen russischen Provinzstädten wenig anziehend. Einst ließ Sowjetherrscher Stalin Tausende Gefangene in die entlegene Gegend deportieren. Sie stampften eine Stadt aus dem Boden, um die reichen Goldvorkommen der Region zu erschließen. In späteren Sowjetjahren lockten die staatlichen Betriebe Arbeiter aus dem ganzen Land mit üppigen Löhnen. Heute geht nicht mehr viel in der Stadt. Seit dem Ende der UdSSR kehrten etwa 40 Prozent der einst 150.000 Einwohner der Stadt den Rücken. Zwar locken im Fischfang und im Bergbau noch immer vergleichsweise hohe Löhne von umgerechnet etwa 1.500 Euro Saisonarbeiter aus dem ganzen Land an, doch die Einheimischen träumen oft nur noch vom Umzug "aufs Festland", wie der europäische Teil Russlands in Magadan genannt wird, weil sie das ärmliche Leben satt haben. Von den hohen Verdiensten der Saisonarbeiter bleibt nämlich kaum etwas in der Stadt hängen. Denn die gut bezahlten Arbeitskräfte von Außerhalb ernähren mit dem verdienten Geld ihre Familien daheim.
Bürgermeister als Sündenböcke
Allein die immensen Probleme der Stadt reichen aus, um selbst regierungstreue Politiker von einer Bürgermeister-Kandidatur abzuschrecken. Und das, obwohl das offizielle Einkommen des Magadaner Bürgermeister für russische Verhältnisse sehr üppig ausfällt: umgerechnet 64.000 Euro Jahresverdienst in einem Land mit monatlichen Durchschnittslöhnen von umgerechnet 600 Euro. Laut Grischan hat die Zurückhaltung der potenziellen Bewerber aber noch andere Gründe. Das Haushaltsbudget von Magadan ist chronisch im Defizit. Ein Teil des Geldes kommt aus Moskau. "Es ist alles sehr hart, die Verantwortung ist riesig", sagt Grischan.
Im Klartext: Bürgermeister können jederzeit Probleme Kontrolleuren aus Moskau bekommen. Denn in Russland tobt mittlerweile schon seit einigen Jahren ein öffentlichkeitswirksamer Kampf gegen Korruption, bei dem es vor allem kleineren Beamten, Bürgermeistern und Regionalgouverneuren an den Kragen geht. Sie sind mittlerweile zum schwächsten Glied in einem System geworden, das auf allen Ebenen mit einem massiven Korruptions-Problem zu kämpfen hat.
Erst vor wenigen Wochen wurde in der sibirischen 500.000-Einwohner-Stadt Tomsk mit Iwan Klein bereits der dritte Bürgermeister in Folge wegen des Verdachts auf Korruption verhaftet. Im vergangenen Jahr geriet die Großstadt Miass im Südural in die Schlagzeilen, nachdem sich dort keine Bewerber für den Bürgermeisterposten fanden. Davor sind seit der Jahrtausendwende mindestens drei Stadtoberhäupter ins Gefängnis gewandert, wegen Amtsmissbrauchs und Korruptionsvorwürfen. Längst hat sich in Russland die Gewissheit durchgesetzt, dass Korruption das politische System überhaupt erst am Laufen hält.
Bürokratie als Sicherheitsrisiko
"Vor allem in der Provinz ist es ein Problem, geeignete Kandidaten zu finden", sagt der Moskauer Politikberater Jewgenij Mintschenko. "Niemand möchte im Gefängnis landen". Die Sicherheitsorgane könnten angesichts der überbordenden Bürokratie und Vorschriften fast jedem Bürgermeister Dienstvergehen oder Veruntreuung von Mitteln vorwerfen. Die richtig dicken Fische im Umfeld des Präsidenten bleiben bei diesem Kampf hingegen unbehelligt.
Das hat sichtbare Folgen für die Lokalpolitik. In diesem Jahr hatte ähnlich wie im Fall Magadan auch die Großstadt Blagoweschensk an der Grenze zu China erst im letzten Moment mehrere Bewerber gefunden. Und auch im sibirischen Norilsk, das zuletzt weltweit durch die Dieselkatastrophe in die Schlagzeilen gelangte, musste die Bewerbungsfrist für Kandidaten im Oktober verlängert werden. Der alte Bürgermeister hatte im Sommer seinen Rücktritt angekündigt. Die Großstadt Miass im Südural hatte bereits im vergangenen Jahr für Schlagzeilen gesorgt, nachdem sich dort keine Bewerber für das Bürgermeisteramt fanden. Seit der Jahrtausendwende sind dort wegen Amtsmissbrauchs und Korruption ebenfalls mindestens drei Stadtväter ins Gefängnis gewandert.
Beförderung oder Knast
Dass es sich um ein systembedingtes Problem handelt, belegen auch wissenschaftliche Untersuchungen. So hat der angesehene Moskauer Think-Tank KGI im vergangenen Jahr eine Langzeitstudie veröffentlicht. Dabei wurden die Karrieren von 300 Bürgermeistern in 100 Städten über zehn Jahre verfolgt. Das Ergebnis: Fast 40 Prozent der Stadtoberhäupter haben ihren Posten vorzeitig verlassen. Besonders gravierend jedoch: Nahezu jeder siebte Bürgermeister aus der Studie wurde während seiner Amtszeit strafrechtlich verfolgt und landete hinter Gittern. Nur 21 Prozent der Bürgermeister konnten ihren Posten als Sprungrett für eine weiterführende, regional oder überregional, nutzen.
In Magadan spielt der noch amtierende Bürgermeister Grischan derweil mit dem Gedanken, doch noch einmal anzutreten, wenn sich kein Bewerber findet. Denn er ist bislang immerhin nicht mit Korruptionsvorwürfen belastet, was ihm ein wenig Spielraum verschafft und ihn auch gelassener macht. "Ich habe mit 63 Jahren keine Angst mehr", sagte er dem russischen Sender Ren-TV. "Die Frage ist nur, ob ich zu dieser Aufopferung körperlich noch in der Lage bin".
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 11. September 2020 | 17:45 Uhr