Klimawandel Dieselunfall in Russland: Wenn die Arktis auftaut
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05. Juni 2020, 18:45 Uhr
Der Dieselunfall bei Norilsk ist seit Jahren die größte Umweltkatastrophe dieser Art in Russland. Doch es könnten weitere folgen, denn die Klimaerwärmung setzt den arktischen Boden in Bewegung.
Erst aus der Luft wird das Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Arktische Flüsse, deren Oberfläche auf einer Länge von fast einen halben Kilometer rot gefärbt ist. 20.000 Tonnen Dieseltreibstoff aus dem Tank eines Wärme- und Stromkraftwerks in der nordsibirschen Stadt Norilsk sind ausgelaufen und vergiften nun die empfindliche Umwelt der Tundra unweit des Polarkreises. Die Satellitenbilder der Unfallfolgen, veröffentlicht von der Raumfahrtbehörde Roskosmos, sorgen derzeit für Aufsehen in Russlands sozialen Netzwerken. Genauso wie die Bilder eines verärgerten Präsidenten, der vor wenigen Tagen bei einem Fernsehauftritt den Gouverneur des Gebiets Krasnojarsk und den Chef des Unglücks-Kraftwerks vor laufenden Kameras zusammenstauchte.
Fast zwei Tage hatte es gedauert, bis die Diesel-Katastrophe in ihrem vollem Umfang bekannt wurde. Erst als Anwohner in sozialen Netzwerken Alarm schlugen und Videos vom Unfallort posteten, kam die Reaktion des Kremls. Wladimir Putin präsentierte sich in seiner gewohnten Rolle als Problemlöser, der die als unfähig dastehenden, lokalen Verantwortlichen zur Vernunft bringt.
Und so scheint auch dieses Unglück einem bekannten russischen Drehbuch zu folgen. Versuchte Geheimhaltung auf lokaler Ebene, Versagen der regionalen Machthaber und schließlich ein Präsident der das Problem löst. Am Freitag wurde Wjatscheslaw Starostin, ein leitender Angestellter des betroffenen Kraftwerks, verhaftet. Zudem laufen Ermittlungen, weil Informationen über das Unglück nicht rechtzeitig weitergegeben worden sind. Die russische Wirtschaftszeitung Vedomosti berichtete, dass die Katastrophe hätte verhindert werden können, wäre das Kraftwerk mit einem System zur Überwachung von Bodenveränderungen ausgestattet gewesen. Die Betreiber des Kraftwerks, das zum Bergbau und Metallkonzern Norilsk Nikel gehört und in den 1970er-Jahren erbaut wurde, hatte die Anschaffung 2017 in Betracht gezogen.
Im gleichen Jahr hatte die technische Aufsichtsbehörde Rostechnadzor Mängel und Korrosionsschäden an den Dieseltanks ausgemacht. Diese wurden nicht beseitigt, obwohl die Betreiber zuletzt im Herbst 2019 Reparaturarbeiten im Wert von zwei Millionen Euro ausgeschrieben hatten.
Klimawandel mitverantwortlich
Doch während die Behörden derzeit mit den unmittelbaren Folgen der Katastrophe und der Suche nach den Verantwortlichen beschäftigt sind, zeigt das Dieselleck ein größeres Problem auf, das Russland künftig zunehmend beschäftigen dürfte. Das Katastrophenschutzministerium sieht die Ursache des Lecks nämlich im tauenden Permafrost: Die globale Erwärmung weiche die sonst stets gefrorenen Böden der russischen Arktis auf. Dadurch sei das Betonfundament ins Wanken geraten, was Risse im Tank nach sich zog. Eine Einschätzung, die auch das Unternehmen Norilsk Nikel teilt.
"Solche Tauprozesse sind nichts Ungewöhnliches für die Arktis in Zeiten des Klimawandels" heißt es dazu bei Greenpeace Russland. Die Böden seien instabil, weil Permafrost taut. "Diese Prozesse werden schon seit langem beobachtet, und dürften sich weiter intensivieren". Auch die staatliche Wetterbehörde Roshydrometcentr warnt, die Temperaturen in Nordsibirien seien zuletzt weit über den Durchschnittswerten gewesen. Auf der Tajmyr-Halbinsel, nördlich von Norilsk sei es Ende Mai wärmer gewesen als in Moskau, erklärte der Leiter des staatlichen Wetterdienstes vor Journalisten. Dabei müsste die Temperatur dort 15 Grad niedriger sein als in der Hauptstadt.
Jährlich Tausende kleine Unfälle
Das Problem betrifft jedoch nicht nur die Region rund um Norilsk. Fast die Hälfte des russischen Territoriums besteht aus Permafrost-Böden. Neben Norilsk gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Städte, die darauf gebaut sind. Da ist zum Beispiel die Bergbaustadt Workuta, auch Yakutsk mit seinen 270.000 Einwohnern oder Salekhard mit rund 50.000 Einwohnern. Etwa ein drittel der Öl- und 60 Prozent der Gasvorkommen lagern in Permafrost-Gebieten. Nach einer Untersuchung der russischen Akademie der Wissenschaften geschehen derzeit jährlich etwa 7000 kleinere Unfälle weil Pfeiler, Fundamente und Stützen wegen angetauter Böden ihre Funktion verlieren. Meistens können die Probleme ohne großes Aufsehen oder Folgen beseitigt werden. Allein in Yakutsk haben nach offiziellen Angaben der Stadtverwaltung etwa 300 Gebäude Risse oder kleinere Schäden wegen tauendem Permafrost bekommen.
Tatsächlich hat der Kreml das Problem der Klimaerwärmung lange unterschätzt. Nicht wenige glaubten sogar, die Klimaerwärmung sei gut für Russland, dessen Territorium in weiten Teilen zu kalt ist, um besiedelt zu werden. Wladimir Putin selbst hat die Existenz des Klimawandels erst vor wenigen Jahren anerkannt, glaubt jedoch nicht daran, dass der Mensch Einfluss auf diesen Prozess hat. Die Umweltaktivisten Greta Thunberg bezeichnete Putin zwar als "nett" aber "schlecht informiert". Wie gut bisher der Präsident über den Zustand der eigenen Infrastruktur in Zeiten des Klimawandels informiert war, bleibt dagegen fraglich. Die Umweltaufsicht und die Technische Aufsichtsbehörde sollen jetzt jedenfalls alle potenziell gefährlichen Industrieobjekte in der russischen Arktis unter die Lupe nehmen und auf mögliche Probleme überprüfen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 05. Juni 2020 | 17:45 Uhr