Eine junge Frau mit einer Gesichtsmaske gibt ihre Stimme bei den Kommunalwahlen in Bukarest ab
Eine Wählerin in Bukarest hier bei der Lokalwahl Ende September. Bildrechte: imago images/Xinhua

Rumänien Parlamentswahl in Zeiten von Corona

06. Dezember 2020, 14:43 Uhr

Rund 19 Millionen Rumänen sind am heutigen Sonntag aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Regiert wird das Land derzeit von einer nationalliberalen Minderheitsregierung. Soll sie Rumänien auch künftig durch und vor allem aus der Corona-Krise führen? Bestimmendes Thema beim Urnengang: der Notstand im Gesundheitssystem. Soziologen zögern diesmal bei den Vorhersagen, denn unklar ist, wer trotz Pandemie wählen gehen wird.

Wer auf das Schwarz-Weiß-Foto vom Kreiskrankenhaus in der ostrumänischen Stadt Pitra Neamt blickt, kann das Drama förmlich riechen. Verrußte Wände, verkohlte Betten, geschmolzene Plastikapparaturen. Auf der Intensivstation – da, wo Covid-19-Patienten um ihr Leben rangen – war Mitte November ein Feuer ausgebrochen. Nur einer der 16 Patienten überlebte die Flammen und die Folgen der schweren Verbrennungen. Ermittler vermuten, dass ein Kurzschluss auf der Station den Brand auslöste.

Intensivstationen als "Zeitbomben"?

Eine Verkettung unglücklicher Umstände? Nein, warnen Intensivmediziner und Gewerkschaftsvertreter in diesen Tagen in rumänischen Medien. Die meisten Krankenhäuser im Land sind oft über fünf Jahrzehnte alt, die Gebäude marode, die Elektroleitungen spröde und brüchig. All das mache aus vielen Intensivstationen im Land eine "wahrhafte Zeitbombe", sagte vor Tagen eine rumänische Notfallärztin dem Radiosender "Europa Libera".

Doch nicht nur das Brandunglück sorgt derzeit für Diskussion, in der Kritik stehen auch die Behörden. "Es ist empörend, dass die Angehörigen aus dem Fernsehen vom Unglück erfahren haben", sagt Razvan Chereches, der an der Universität Babes-Bolyai in Cluj-Napoca öffentliche Gesundheitsfürsorge unterrichtet. "Dass es nach dem Brand an effizienter Krisenkommunikation mangelte, wird die Wahl am Sonntag auf jeden Fall beeinflussen. Offen ist nur, wie“, sagt Chereches auf MDR-Anfrage von "Heute im Osten".

Wahl in Rumänien Rumäniens Parlament ist ein Zweikammersystem aus Senat und Abgeordnetenkammer. Die Wahl beginnt für Auslandsrumänen bereits am Samstag, in Rumänien bleibt es beim Sonntag als einzigen Wahltag. Die Wahllokale schließen 20 Uhr.

Tausende Mediziner abgewandert

Seit März steckt das Land in einer Dauerkrise, nichts legt die Corona-Pandemie so schonungslos offen, wie den Notstand im rumänischen Gesundheitssystem. Zuletzt ließ die nationalliberale Regierung in Bukarest hunderte Beatmungsgeräte kaufen, um die Krankenhäuser in der Corona-Pandemie nicht völlig kollabieren zu lassen. Der Mangel an Intensivbetten mag sich mit zusätzlichen Geldern vielleicht noch lösen lassen, der akute Mangel an Fachpersonal dagegen nicht. Tausende Ärzte und Krankenschwestern haben in den vergangenen Jahren dem abgewirtschafteten Gesundheitssystem den Rücken gekehrt und sind nach Westeuropa ausgewandert. Rumänische Ärzteverbände gehen davon aus, dass auf einheimischen Intensivstationen nur ein Viertel des Personals arbeitet, verglichen mit westeuropäischen Stationen.

OP-Saal
Abgewirtschaftetes Gesundheitssystem: Blick in einen OP-Saal in einem Kreiskrankenhaus. Das Bild stammt von 2016. Bildrechte: MDR/Annett Müller

Schauplatz großer Korruptionsskandale

In Rumänien gilt daher für Viele die eiserne Regel, dass man um Krankenhäuser lieber einen großen Bogen machen sollte. Wer dennoch medizinisch versorgt werden muss, zahlt für etwas mehr menschliche Hingabe Extrazuwendungen an Krankenpfleger und Ärzte, die wegen des Personalmangels für die Patienten kaum Zeit haben. Hinzu kommt: Das Gesundheitssystem ist chronisch unterfinanziert. 2018 lagen die öffentlichen Gesundheitsausgaben bei 584 Euro pro Einwohner, in Deutschland fiel die Summe acht Mal höher aus. Trotz Geldmangels sind die rumänischen Krankenhäuser immer wieder Schauplatz großer Korruptionsskandale. Vor zwei Jahren warnte die damalige Anti-Korruptionschefin Laura Codruta Kövesi vor den korrupten Machenschaften vor allem im medizinischen Beschaffungswesen: So würden Geräte und Apparaturen oft zum Vielfachen des Marktpreises eingekauft. Das Bestechungsgeld für solche Deals fließe direkt an die Krankenhausmanager, so Kövesi.

Verwaltungsposten gehen an Parteigünstlinge

In der Regel werden die lukrativen Managerposten an die parteieigene Klientel vergeben – nicht nur in Krankenhäusern, sondern in der gesamten öffentlichen Verwaltung. Bei Anstellungen zählen weniger Qualifikation und Kompetenzen als vielmehr das Parteibuch und politische Beziehungen. Transparente Ausschreibungsverfahren sind äußerst selten. Im Gegenzug für die Beförderungen wird Geld an die Partei gespendet. Weder die regierende nationalliberale PNL noch die sozialdemokratische PSD - die beiden größten Parteien Rumäniens – haben mit dieser Praxis bislang aufgeräumt. "Unser Grundproblem ist, dass die staatlichen Institutionen nicht kompetent funktionieren. Genau das sorgt für viele andere Probleme", sagt der Bukarester Soziologe Barbu Mateescu dem MDR.

Parlament genießt wenig Vertrauen

Nach dem Brand in der Klinik von Piatra Neamt fand die rumänische Presse heraus, dass der Posten des Krankenhausmanagers in einem Jahr acht Mal neu besetzt worden war. Viele Rumänen fragen sich inzwischen, ob das Unglück womöglich die Folge eines Missmanagements der Klinikleitung war. "Die neue Mittelschicht in den Großstädten beobachtet sehr genau, wie gut der Staat funktioniert", sagt Soziologe Mateescu, "die Ansprüche dieser Wähler sind sehr hoch geworden". Doch werden sie am Sonntag auch zur Abstimmung gehen? Seit Jahren stoßen die Parlamentswahlen bei den Bürgern auf nur mäßiges Interesse. Nur jeder vierte Wahlberechtigte beteiligte sich 2016 an der Abstimmung. Angesichts zahlreicher Korruptionsskandale, umstrittener Reformen und dauerhafter innenpolitischer Querelen hat das Parlament einen schweren Stand bei den Bürgern. Meinungsumfragen zufolge schenken nur zehn Prozent der Rumänen dieser politischen Institution großes Vertrauen.

Wer die Wahl unter sich ausmachen könnte

Doch am Sonntag geht es um die Neubesetzung genau dieser Volksvertretung. Glaubt man den Umfragen, haben die regierenden Nationalliberalen (PNL) die größten Chancen (28 Prozent) auf einen Wahlsieg. Vor gut einem Jahr stürzte die Partei mit der gesamten Opposition das damalige sozialdemokratische Kabinett von Premierministerin Viorica Dancila (PSD) per Misstrauensvotum. Die Sozialdemokraten (PSD) liegen in Umfragen auf Platz zwei (23 Prozent). Dass PNL und PSD die Wahl unter sich ausmachen werden, "liegt an ihrer starken Präsenz in den Stadt- und Gemeindeverwaltungen", sagt der Bukarester Politikexperte Cristian Pirvulescu. Bürgermeister gelten in Rumänien als die wichtigsten Wahlhelfer bei Parlamentswahlen, sie mobilisieren die Bürger zur Abstimmung zu gehen.

Wahlbündnis hat gute Chance

Zünglein an der Waage für eine stabile Mehrheitsregierung ist die USR-PLUS – ein liberal-konservatives Wahlbündnis aus zwei jungen Parteien. PLUS – gegründet vom früheren EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos – gibt es erst seit zwei Jahren. Die USR holte 2016 als Newcomerpartei rund neun Prozent in beiden Parlamentskammern. Jetzt verspricht sie auf ihrer Webseite, "ehrlich und professionell zu sein, und sich in den Dienst der Bürger zu stellen." Altbewährte Eigenschaften also, in Rumänien kann man damit in den Wahlkampf ziehen. Jüngste Umfragen sagen dem Bündnis bis zu 18 Prozent voraus.

Macht die Pandemie die Menschen wahlmüde?

Trotz der stabilen Umfragewerte halten Soziologen etwas ganz anderes für wahlentscheidend: Wie viele Wähler lassen sich am Sonntag mobilisieren? "Vor allem junge Wähler und die Mittelschicht sind den vergangenen Parlamentswahlen ferngeblieben. Wiederholt sich das, hätte die USR-PLUS das Nachsehen", sagt Soziologe Mateescu. Auch die PSD muss zittern. Zu ihren treuesten Wähler gehören viele der gut fünf Millionen Rentner im Land. Doch könnten sie wegen der Corona-Pandemie größtenteils auf den Gang zur Wahlurne verzichten, wie schon bei den Lokalwahlen im September geschehen.

Die regierende PNL steht derweil in der Kritik, die hohen Fallzahlen nicht ernst genug zu nehmen. Die Zahl der Neuinfektionen ist verglichen zur Bevölkerungszahl gerade ähnlich hoch wie in Deutschland, doch wird in Deutschland sechs Mal mehr getestet. Gesundheitsexperte Razvan Chereches kann sich das nur so erklären: "Entweder sind die Behörden logistisch unfähig, mehr zu testen, oder sie wollen wegen der Wahl am Sonntag die Infektionslage nicht so dramatisch aussehen lassen."

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERNSEHEN | 04. Dezember 2020 | 17:45 Uhr

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