Der bulgarische Ministerpräsident Boiko Borissow
Bulgariens Noch-Regierungschef Borissow hat ein Problem: Seine Partei hat die Wahl zwar gewonnen, kann allein aber keine Regierung bilden. Borissow selbst steht für eine weitere Amtszeit nicht zur Verfügung. Bildrechte: IMAGO / photonews.at

Nach der Parlamentswahl Bulgarien: Sonnenfinsternis am Goldstrand?

15. April 2021, 11:30 Uhr

Nach der Parlamentswahl in Bulgarien sieht es finster aus im Balkanland. Eine Regierung wird es wegen schwacher Mehrheiten wohl sobald nicht geben. Und Noch-Ministerpräsident Borissow verzichtet zwar auf eine weitere Amtszeit, doch das hält ihn nicht davon ab, Druck auf die anderen Parteien und auf die Wähler auszuüben. Das Land befindet sich in einer Sackgasse und zu der politischen Krise könnte sich bald auch eine wirtschaftliche dazugesellen, wenn Mittel aus dem EU-Rettungsfonds verzögert oder gar nicht fließen.

Vessela Vladkova
Bildrechte: Vessela Vladkova

"Guten Abend, verehrte Zuschauer! Schlafen Sie? Oder warten Sie, dass der nächste Retter der Nation kommt? Den letzten haben wir rausgekickt, die Arme nach dem nächsten ausgestreckt." Ob Slawi Trifonow, als er 2013 diese Zeilen schrieb, wusste, dass er acht Jahre später selbst in die Rolle des "nächsten Retters der Nation" schlüpfen wird? Nach den Parlamentswahlen am 4. April gilt der Musiker und Showmaster als der Kingmaker – gegen den Willen seiner populistischen Partei "Ein Volk" wird in Sofia keine neue Regierung gebildet werden können. Doch diese Rolle macht ihm Noch-Regierungschef Bojko Borissow streitig.

EU-Coronahilfen – ein Racheplan der scheidenden Regierung?

Das Dilemma: Borissows Partei hat die Wahl zwar gewonnen, allerdings mit starken Stimmverlusten. Allein kann sie nicht regieren, die anderen Parteien wollen mit ihr nicht koalieren – sie waren schließlich als Protestparteien gegen den seit Jahren amtierenden Regierungschef angetreten. Bis gestern sah sich Borissow dennoch selbst als klaren Favoriten für diesen Posten. Heute kündigte der 61-Jährige überraschend an, keine weitere Amtszeit anzustreben. Noch in der Wahlnacht hatte Borissow auf Facebook vor "enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten" infolge der Pandemie gewarnt. Selbstsicher bezeichnete er sich als den "einzig international renommierten" Politiker Bulgariens und warf den anderen Parteien vor, sie hätten "kein Fachwissen und keine Leute, die diesen Job machen können".

Als Druckmittel benutzte Borissow die Coronahilfen der EU. Sein Trumpf: Bis Ende April muss Bulgarien einen Plan bei der EU-Kommission einreichen, aus dem hervorgeht, welche Reformen und Investitionen aus dem 750 Milliarden Euro schweren Hilfstopf "Next Generation EU" finanziert werden sollen. 12,2 Milliarden Euro daraus stehen für Bulgarien bereit, doch das Risiko ist groß, dass das Geld gar nicht erst fließen wird. Denn die scheidende Regierung in Sofia entschied, den Plan zurückzuhalten. "Der Anstand verlangt es, dass dieser Plan von der nächsten Regierung, sei sie auch nur eine Interimsregierung, nach Brüssel geschickt wird", argumentierte Vizepremier Tomislaw Dontschew eine Woche nach dem emotionalen Facebook-Auftritt seines Partei- und Regierungschefs.

Dabei hatten fast alle Protestparteien eine Revision der Regierungspläne für die EU-Coronahilfen ankündigt. Doch dafür bleibt ihnen eigentlich keine Zeit, auch wenn die EU-Kommission Verständnis für die Lage in Bulgarien zeigte. "EU-Länder, die ihren Recovery-Plan später in Brüssel einreichen, bekommen Corona-Hilfen frühestens im Herbst", hat der Vizepräsident der EU-Kommission Valdis Dombrovskis gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Bulgarischen Nationalen Rundfunk (BNR) am Dienstag erklärt. Bei einer Verzögerung der Auszahlung aber würde sich zur politischen Krise in Bulgarien auch eine wirtschaftliche dazugesellen.

Pattsituation im neuen bulgarischen Parlament

Die Wahl am 4. April hat äußerst schwierige Mehrheitsverhältnisse hervorgebracht. Der Musiker und Showmaster Slawi Trifonow ist mit seiner neugegründeten populistischen Partei "Ein Volk" aus dem Stand zweitstärkste Parlamentskraft geworden. Er sicherte sich – ohne Wahlprogramm und so gut wie ohne Wahlkampf – 17,4 Prozent der Stimmen. Seit Jahren wirbt Trifonow dafür, das Parlament von derzeit 240 auf 120 Sitze zu verkleinern, das Wahlrecht zu reformieren und die Parteienfinanzierung drastisch einzuschränken. Das hat ihm viele Stimmen gebracht.

Plakat mit dem Gesicht von Premierminister Bojko Borissow, gehalten von einem Demonstranten während der Demonstration.
Trifonows Partei profitierte von den großen Protesten gegen Bulgariens Noch-Regierungschef Borissow im Sommer 2020. Bildrechte: imago images/ZUMA Wire

Im Vorfeld der Wahlen als die "große Unbekannte" bezeichnet, schaffte es Trifonows populistische Partei, das Protestlager anzuführen. Im Zuge der monatelangen Demonstrationen von Regierungsgegnern im Sommer hatten sich mehrere Protestbündnisse gegründet, drei davon sind nun im neuen bulgarischen Parlament vertreten, ohne jedoch gemeinsam eine Regierungsmehrheit erreicht zu haben. Diese verfehlte auch der Wahlsieger, die proeuropäische Mitte-Rechts-Regierungspartei GERB. Wenn das Parlament am 15. April zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommt, erhält die GERB den Auftrag zur Regierungsbildung, so wie es die Verfassung vorsieht. Die Parteispitze kündigte an, dazu bereit zu sein, auch wenn die Aussichten auf Unterstützung durch die übrigen fünf Parlamentsparteien sehr gering bis nichtig sind. Denn die 45. Volksversammlung in Sofia ist zweigeteilt – pro und contra Ministerpräsident Borissow, dem die Regierungsgegner Korruption und Machtmissbrauch vorwerfen. Und so ist der 61-Jährige in einem stark zersplitterten Parlament völlig isoliert, zumal seine nationalistischen Koalitionspartner von der VMRO den Sprung ins Parlament knapp verfehlt haben – sie wurden wohl für ihre Regierungsbeteiligung abgestraft. So brachte der erfahrene Politprofi Borissow noch in der Wahlnacht eine Expertenregierung ins Spiel und reichte damit der Opposition die Hand. Dieses "Friedensangebot" ist bislang nicht angenommen worden.

Neuwahlen am Horizont

Wenn die GERB-Partei, die seit 2009 in Bulgarien fast ununterbrochen durchregiert, mit der Regierungsbildung scheitert, kommt die zweitstärkste Parlamentskraft zum Zug, schreibt die Verfassung vor. "Alle traditionellen Parteien drücken die Daumen, dass Trifonows Partei 'Ein Volk' ein Kabinett zustande kriegt, um danach von der Bildfläche zu verschwinden, denn ein solches Kabinett ohne stabile parlamentarische Unterstützung würde über kurz oder lang über die unausweichlichen prinzipienlosen Kompromisse stolpern", sagt der angesehene bulgarische Politologe Andrej Rajtschew. Ihm zufolge steuert Bulgarien auf Neuwahlen zu. Denn nach dem Scheitern des zweiten Anlaufs darf der Präsident laut Verfassung entscheiden, eine der übrigen Parlamentsparteien mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Wegen allseitiger Abneigungen und Ausschlusskriterien hat keine von ihnen die Chance, eine Mehrheit zu bekommen. Dann muss der Präsident das Parlament auflösen, eine Interimsregierung einsetzen und binnen zwei Monaten Neuwahlen anberaumen. "Wahlen im Hochsommer gleichen im Urlaubsland Bulgarien einem Lotteriespiel", urteilt der Politologe Rajtschew. Es gelte nicht als gesetzt, dass die Showmaster-Partei "Ein Volk" dann aus den Neuwahlen als Sieger hervorgeht. Angesichts der sich in ganz Europa abzeichnenden Wirtschaftskrise nach der Pandemie dürfe die erfahrene GERB-Partei nicht unterschätzt werden, meint der Experte.

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Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell Radio | 04. April 2021 | 20:00 Uhr

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