Osteuropa-Experte Stefan Troebst
Stefan Troebst, Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig. Bildrechte: Friedrich-Schiller-Universität Jena

Interview mit Kulturhistoriker Stefan Troebst Proteste im Urlaubsland Bulgarien: Was ist da los?

27. Juli 2020, 11:56 Uhr

In Bulgarien gehen seit einer Woche Tausende Menschen auf die Straße. Sie prangern Korruption und Vetternwirtschaft im ärmste Land der EU an und fordern den Rücktritt von Ministerpräsident Borissow. Die Opposition hat ein Misstrauensvotum gegen Borissow eingebracht. Für heute werden neue landesweite Demonstrationen erwartet. Wir haben den Bulgarien-Experten Stefan Troebst, Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig, zu den Hintergründen befragt.

Seit einer Woche demonstrieren jeden Abend Tausende Menschen in Bulgariens Haupstadt Sofia und anderen großen Städten des Landes. Was ist da los in Sofia, Burgas und Plowdiw?

Da ist zum einen der allgemeine Unmut großer Teile der Bevölkerung gegen die weit verbreitete Korruption und gegen den hochgradigen politischen Einfluss von Oligarchen im Land. Und zum anderen ist da der Konflikt zwischen dem postkommunistischen, pro-russischen Staatspräsidenten Rumen Radew und dem konservativ-nationalistischen Premierminister Bojko Borissow. Also besteht die aktuelle Protestbewegung aus zwei völlig unterschiedlichen ideologischen Strömungen. Und diejenigen, die mit der Korruption unzufrieden sind, wollen sich nicht von den Post-Kommunisten vereinnahmen lassen, weil sie der Meinung sind, die sind genauso korrupt.

Aber beide Lager demonstrieren doch zusammen? Gibt es ein gemeinsames Thema, das beide Lager vereint?

Da muss man schauen, wie es in den nächsten Tagen weiter geht. Vielleicht bilden sich Sprecher heraus, die beide Demonstrationszüge voneinander trennen. Pro forma wendet sich Staatspräsident Radew auch gegen Korruption, aber das nimmt ihm keiner ab. Weil klar ist, dass die BSP, die Bulgarische Sozialistische Partei, in den Jahren, in denen sie die Regierung gestellt hat, den Staat ebenfalls massiv bestohlen hat.

Rumen Radew, Präsident von Bulgarien
Rumen Radew, Präsident von Bulgarien Bildrechte: picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Warum gibt es diese Demonstrationen ausgerechnet jetzt, wo die Urlaubssaison beginnt und die Corona-Infektionen in Bulgarien steigen?

Mit der Corona-Pandemie haben die Proteste in Bulgarien nichts zu tun. Die Corona-Krise in Bulgarien ist nicht so katastrophal wie in Serbien, wo vor allem im Süden des Landes offensichtlich verheerende Zustände im Gesundheitswesen festzustellen sind. Da ist Bulgarien noch relativ glimpflich durch die Krise gekommen, was sich natürlich jeder Zeit ändern kann.

Dass die Demonstrationen ausgerechnet jetzt stattfinden, liegt daran, dass vergangenen Donnerstag die Diensträume des Staatspräsidenten durchsucht worden sind. Der Vorwurf gegen Rumen Radew: zwei seiner Mitarbeiter seien korrupt. Daraufhin mobilisierte Radew die Anhänger der BSP gegen die Regierung.

Dass gleichzeitig die Korruptionsgegner im Land auch auf die Straße gehen, liegt sicher an der tiefgreifenden Frustration darüber, dass die massenhafte Demonstrationsbewegung des Jahres 2013 keine politische Wirkung entfaltet hat. Damals sind wochenlang jeden Abend Zehntausende im Stadtzentrum von Sofia demonstrieren gegangen, aber es hat zu keiner Veränderung geführt. Jetzt haben diese Kritiker gesehen - hoppla, da ziehen Demonstranten durch die Stadt mit Parolen gegen den Ministerpräsidenten Borissow und sein Kabinett und da haben sich offensichtlich viele gesagt: Wir sind auch gegen den Ministerpräsidenten und sein Kabinett, also marschieren wir mit.

Bulgarien gilt als das ärmste Land in der EU – spielt das eine Rolle für die Demonstrationen?

Das eigentliche Problem Bulgariens ist der dramatische Rückgang der Bevölkerung. Also alle, die jung und gut ausgebildet sind, versuchen so schnell wie möglich, das Land zu verlassen. Man schätzt, das waren in den vergangenen 25 Jahren etwa zwei Millionen Menschen. Wenn wir davon ausgehen, dass Bulgarien 1989 etwa neun Millionen Einwohner hatte, dann ist der Bevölkerungsverlust dramatisch. Das ist, wie wenn die Bevölkerung der Bundesrepublik um 20 Millionen zurückgegangen wäre. Und das führt dazu, dass die Eltern und Großeltern derjenigen, die weggegangen sind, jegliches Vertrauen in den Staat verloren haben, unabhängig von den Korruptionsvorwürfen. Ein Staat, den junge, gut ausgebildete Bürger massenhaft verlassen, der taugt nichts.

(hd)

Über Stefan Troebst Stefan Troebst ist Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen u.a. im Nationalismus und der Historiografie auf dem Balkan, den kollektiven Identitäten im Ostmitteleuropa der Nachwende-Zeit sowie auch auf den Internationalen Organisationen und ethnopolitischen Konflikten im Osteuropa der Gegenwart. Von 2011 bis 2015 war er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Troebst ist außerdem stellvertretender Direktor des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europa an der Universität Leipzig und Vorstandsvorsitzender des Kompetenzzentrum Mittel- und Osteuropa Leipzig e. V. Der Verein will die Osteuropa-Forschung an akademischen Institutionen fördern und vernetzen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 15. Juli 2020 | 05:00 Uhr

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