Wunderglaube Ist in Polen die Muttergottes erschienen?
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18. Juni 2023, 05:00 Uhr
Im ostpolnischen Parczew haben Einwohner auf einer Eiche eine angebliche Marienerscheinung ausgemacht. Die Wissenschaft hat rationale Erklärungen dafür. Selbst die Kirche lehnt die Erscheinung ab. Viele glauben trotzdem an ein "göttliches Wunder".
Die Kleinstadt Parczew im Osten Polens war einst für ihre Essig- und Senffabrik bekannt. In den letzten Wochen nun macht sie Schlagzeilen, weil Einwohner glauben, dort an einer Eiche eine "Erscheinung" ausgemacht zu haben. Bilden die Risse und Verfärbungen in der Rinde die Jungfrau Maria ab? Oder etwa Jesus selbst?
Einige Polen pilgern nun zu dem Ort, den sie neuerdings für heilig halten. Sie versammeln sich vor dem Baum, sie beten, singen und zünden Kerzen an. Manche küssen die Rinde der Eiche, berühren den Baum mit den Händen oder knien vor ihm. Andere sitzen auf einer Bank und spielen Kirchenlieder von ihren Smartphones ab.
"Ich glaube daran, dass es eine Erscheinung ist. Ich habe alles von meinen Freunden erfahren und bin gleich dahin gegangen. Es ist ein Zeichen der Vorsehung Gottes", sagt eine Einwohnerin. Eine Andere, die in der Nähe des berühmten Baumes lebt, ist derselben Meinung: "Es ist etwas, das unser Gott uns sagen will: Ich habe Angst vor dem Krieg".
Spott und Mitleid in den sozialen Medien
Internet-User begegnen dem vermeintlichen Wunder mit Skepsis. Im Internet ergießt sich Spott über Parczew, nebst Beileidsbekundungen für die Einwohner des hinter dem "Wunderbaum" stehenden Wohnhauses, die die frommen, aber nicht immer wohlklingenden Gesänge der Pilger ertragen müssen.
"Wieder einmal ist die Muttergottes nicht in New York, nicht in Tokio und auch nicht im wunderschönen Barcelona erschienen, und hat sich stattdessen ein Nest in Polen auserkoren", kommentiert ein Instagram-Kanal das Geschehen in Parczew.
Kirche und Wissenschaft streiten das Wunder ab
Die katholische Kirche im zuständigen Bistum Siedlce will den Baum nicht untersuchen. Sie hält die angeblichen Erscheinungen für unecht: "Wir finden nirgendwo Wunder an einem Baum oder einer Glasscheibe." Jacek Świątek, der Pressesprecher der Diözese Siedlce, geht in seiner Bewertung der "Erscheinung" noch weiter und behauptet, sie erinnere ihn eher an Conchita Wurst, die berühmte Dragqueen und Sängerin aus Österreich, die einst das Eurovision-Festival rockte.
Mateusz Fieducik, Sachverständiger für Forstwirtschaft und Dendrologie am Bezirksgericht Warschau-Praga, hat eine einfache Erklärung dafür, dass Menschen an Rissen und Verfärbungen der Baumrinde ein Gesicht zu sehen glauben: "Es ist das Ergebnis unserer Vorstellungskraft und dann unserer Interpretation. Menschen beobachten alle möglichen Bilder zum Beispiel in der Anordnung von Wolken, Sternen oder eben auf der Rinde von Bäumen." Dieses Phänomen hat sogar einen eigenen Namen: "Pareidolie", was aus dem Griechischen kommt und "Scheinbilder" bedeutet.
Der Experte analysierte das Foto des Baumes und stellte fest: "Das Bild wird sich verändern, wenn der Umfang des Stammes wächst. Es ist möglich, dass wir nach einiger Zeit das Gesicht auf der Rinde nicht mehr sehen oder etwas anderes zu sehen beginnen. Solche Risse und Verfärbungen sind ganz natürlich", erklärt er gegenüber dem Portal Wirtualna Polska.
In Krisenzeiten blüht Wunderglaube auf
Rationale Argumente zur "Erscheinung" überzeugen jedoch bei weitem nicht alle: "So viele Tage und es geht nicht weg. Ich denke, das sind übernatürliche Dinge. Vielleicht ruft Jesus zum Gebet auf? Vielleicht ist eine Art Offenbarung – eine Prophezeiung?" Ähnliche Fragen häufen sich in der 10.000-Einwohnerstadt. Inzwischen wurde der Ort der angeblichen Marienerscheinung auf Google-Maps – möglicherweise von einem Witzbold – als "Muttergottes von der Baumrinde" markiert. Unzählige Fotos und Artikel sind in den Medien erschienen, darunter auch solche, die der "Erscheinung" skeptisch entgegenblicken.
Wissenschaftlern zufolge verstärkt sich bei Menschen in Krisensituationen das Bedürfnis nach irrationalen Erklärungen für normalerweise rationale Phänomene. "Ein Wunder ist für viele von uns der letzte Ausweg", sagt der Religionsphilosoph Zbigniew Mikołejko. "Wenn wir unser Glück und unsere Gesundheit nicht mit anderen Mitteln sichern können, beginnen wir zu glauben, dass übernatürliche Kräfte uns helfen werden."
Auf der anderen Seite führt er das Interesse für das "Wunder" von Parczew auf die Eigenheiten des polnischen Katholizismus, für den eine abergläubische Spiritualität typisch sei: "Was uns hier begegnet, ist eine volkstümliche Jahrmarktsfrömmigkeit, verwässert mit heidnischer Soße", erklärt der Wissenschaftler und fügt hinzu: "Der Mensch verlangt ständig nach einer Bestätigung des Glaubens durch die Sinne".
Den Wunder-Hype für einen guten Zweck nutzen
Für viele Einwohner von Parczew wurde der Hype inzwischen zur Last: "Das ist zu weit gegangen. Es sieht langsam beängstigend aus. Wie ein selbsternannter Kult", sagt ein Gemeinderatsmitglied. Trotzdem kann man ihn für nützliche Zwecke gebrauchen, was Adam Kościańczuk, ein lokaler Sozialaktivist, augenzwinkernd bewiesen hat, indem er beschloss, ein Blatt von dem "Wunderbaum" für einen guten Zweck zu versteigern.
"Ich bin katholisch und verurteile niemanden, der an das 'Wunder' am Baum glaubt", betont der Mann. "Ich denke aber, wie meine Mutter, wir sollten selbst Wunder vollbringen, jeden Tag, in unserer eigenen Umgebung." Das Blatt wurde für den 360 Złoty (etwa 80 Euro) versteigert. Kościańczuk legte den gleichen Betrag noch drauf und spendete die Summe an eine Kinderpsychiatrie-Einrichtung.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 24. Juni 2023 | 07:17 Uhr