Skandal im Staatsfunk Polen: Zensur in der Hitparade

23. Mai 2020, 10:53 Uhr

Stellen Sie sich vor, Roland Kaiser singt sich auf Platz 1 der Hitparade, einem Politiker gefällt das nicht und schon rutscht der Schlagerstar auf Platz 4. Nicht vorstellbar? Im staatlichen polnischen Rundfunk ist genau das gerade passiert.

Ostbloggerin Monika Sieradzka vor polnischer Flagge.
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der polnische Rocksänger Kazik
Der polnische Rocksänger Kazik in seinem Video "Dein Schmerz ist besser als meiner" Bildrechte: YouTube | S. P. Records

Der Rocksänger Kazik ist in Polen ein Star. Sein neuer Song "Dein Schmerz ist besser als meiner" landete in der bekanntesten Hitparade Polens auf Platz 1. Kazik singt vom Besuch des PiS-Chefs Jarosław Kaczyński auf einem Warschauer Friedhof am 10. April. Obwohl damals die Friedhöfe wegen der Pandemie geschlossen waren, wollte er seines vor 10 Jahren beim Flugabzeugsturz im russischen Smolensk umgekommenen Zwillingsbruders und damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczyński gedenken. Die Kirche hatte die Tore des Friedhofs für seine Limousine geöffnet, was im Falle eines normalen Bürgers undenkbar gewesen wäre. Viele Polen waren von der Arroganz der Macht empört.

Die Hitparade fliegt aus dem Netz

Weil das Lied bei den Regierenden ziemlich schlecht ankommt, wurde die ganze Hitparaden-Liste kurzerhand von der Webseite des Radiosenders gelöscht und die Abstimmung der Zuhörer für ungültig erklärt. Als offizielle Gründe wurden eine Computerpanne und Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenzählung angegeben. Der für die Stimmenzählung zuständige Journalist wurde sofort suspendiert.

Polskie Radio
Polskie Radio Bildrechte: imago/ZUMA Press

Von Platz 1 auf Platz 4

Nach einer heftigen Debatte, die für einige Tage in den Medien selbst die Corona-Themen überschattete, ruderte die Direktion des Senders zurück und spricht nur noch von einer Computerpanne. Die Hitparade steht wieder online, auch wenn die Platzierung umgestellt wurde und Kazik jetzt nur noch den vierten Platz belegt. 

Regierung besetzt wichtige Posten in den Medien

Die regierende PiS-Partei will in Polen überall das Sagen haben, auch in den staatlichen Medien. Die Chefposten beim staatlichen Rundfunk und Fernsehen werden seit 2015 von PiS-Anhägern besetzt. Andersdenkende haben die Medien meistens schon längst verlassen oder ihnen wurde gekündigt, falls ihre Sendungen zu sehr von der Parteilinie abgewichen sind. Das wusste auch die Direktion des Senders, als sie das aus ihrer Sicht unpassende Lied entfernen ließ.

Das dritte Programm: eine der letzten Nischen der Freiheit

Symbolträchtig an der Geschichte ist aber auch die Tatsache, dass das alles im dritten Programm des polnischen Rundfunks, der populären Trójka geschieht, die als eine der letzten Nischen der Freiheit galt. Die Trójka war schon immer für ihre Musiksendungen bekannt. Selbst im sozialistischen Polen spielte man dort regimekritische Lieder. Mit der 1982 gegründeten wöchentlichen Hitparade sind ganze Generationen von Polen großgeworden. Es ist bis heute die bekannteste Hitparade im Lande.

Ihr Gründer und Moderator Marek Niedźwiecki hat mit seiner unverwechselbaren Stimme, der pointierten Sprache und unglaublich großem Wissen über Musiktrends jahrelang Millionen Zuhörer angezogen. Doch nach dem Skandal um Kaziks Lied verlässt er nun den Sender und mit ihm eine Reihe bekannter Musiker und Journalisten. Für viele Polen fühlt es sich an wie das Ende einer Epoche.

Polski Radio Trojka
Polskie Radio Trójka Bildrechte: facebook.com/Trojka.PolskieRadio

Proteste gegen die Zensur

Aus Protest hatten Trójka-Journalisten eine Menschenkette vor dem Sender organisiert. Auf ihren Facebook-Profilen protestieren sie in einem einheitlichen Text gegen "eine skandalöse Behandlung von Journalisten, Fälschung der Wirklichkeit und Eingriffe der Politiker", ein mutiger Akt, wenn man in Polen in den staatlichen Medien arbeitet.

Die Kulturszene des Landes ist auch aufgewühlt. Die Sängerin Aneta Lipnicka schreibt: "Tod der Trójka, Tod der Freiheit. (…) Ich mache mir Sorgen um mein Land. (…) Wie kann es sein, dass wir nach so vielen Jahren freien Segelns auf offenen Gewässern an diesen Punkt gelangt sind?" Der Musikkomponist Zbigniew Preisner kommentiert: "Wir dürfen uns dieser bolschewistischen Politik nicht beugen, wir müssen unsere Freiheit verteidigen, sonst wird unser Verstand versklavt". Und verspricht: "We will be back!!!”. "Es gibt keinen Kazik, das Land verschwindet. Es gibt keine Trójka, das Land verschwindet", singt der Rap-Sänger Fisz Amade und droht den Regierenden: "Wir werden euch holen".

Freiheiten werden beschnitten

In der polnischen Musikszene ist Kazik, mit bürgerlichem Namen Kazimierz Staszewski, eine Kultfigur. Seit über 30 Jahren spricht er die Probleme einfacher Menschen an und trifft dabei immer den Nerv der Zeit – aus der Perspektive autoritärer Systeme eine ganz gefährliche Eigenschaft des Künstlers. Beim populären Pol’and’Rock Festival 2019 hat er das politisierte staatliche Fernsehen aufs Korn genommen. Obwohl er hauptsächlich die PiS angreift, lässt er sich nicht richtig einstufen, weil er auch andere kritisiert, die ihre Wähler betrügen und die einfachen Menschen im Stich lassen. Dass die Zensur gegen Kazik Wellen schlägt, ist also kein Wunder.

Selbst Regierungspolitikern geht die Zensur zu weit

Auch Politiker beschäftigt jetzt das Thema. Premierminister Mateusz Morawiecki stellte sich hinter den PiS-Chef - zumindest was dessen Friedhofsbesuch zum Gedenken an seinen Zwillingsbruder betrifft. Das sei eine Pflicht gewesen. Andere gehen auf die Zensur in der Hitparade ein. Die geht ihnen zu weit. Kulturminister Piotr Gliński nennt den Vorfall "eine absurde Situation". Zwar sei das Lied von Kazik aus seiner Sicht nicht gelungen, aber es sei das Recht des Künstlers, Irrwege zu gehen und seine Meinung auszudrücken.

Kann das Virus auch den Verstand angreifen?

Vizepremierministerin Jadwiga Emilewicz spricht von einem Skandal. Als 11-Jährige habe auch sie das dritte Programm des staatlichen Rundfunks gehört. Sie  könne sich noch sehr gut an die damalige Zensur erinnern. Im Brief an den Rat der Nationalen Medien appelliert sie: "Lasst uns daran denken, dass das Virus, mit dem wir kämpfen, die Lungen und nicht den gesunden Verstand angreift."

Das Virus, das sich auf verschiedene Bereiche des Lebens ausbreitet, ist auch das Leitmotiv der neuesten Schallplatte von Kazik. Sie heißt "Die Pest” und soll im Juni erscheinen. Es ist seine erste Platte seit 2008. Darauf kommt auch das Lied "Dein Schmerz ist größer als meiner”, das auf YouTube inzwischen über 7 Million Aufrufe hat.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 19. Mai 2020 | 10:30 Uhr

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