Kanalbau Wie Polen mit einem Ostseekanal Russland ein Schnippchen schlagen will
Hauptinhalt
19. September 2022, 15:23 Uhr
Polen hat mit dem Hafen von Elbing Großes vor. Bis zu fünfmal so große Schiffe wie bislang sollen dort künftig einlaufen können. Doch es gibt ein Problem: Der Weg in die Ostsee führte bislang durch "feindliche" russische Gewässer. Ein neu gebauter Kanal soll das Problem lösen. Doch der hat vorerst wenig Nutzen, weil die nachgelagerte Infrastruktur noch fehlt.
Die Stadt Elbing war jahrhundertelang ein wichtiger Ostseehafen. Doch 1945, als die Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg neu gezogen wurden, hatte sie Pech. Das Frische Haff, eine längliche Lagune, die Elbing mit dem offenen Meer verbindet, wurde zwischen Polen und der Sowjetunion aufgeteilt. Quer durch das Haff verlief nun eine stark bewachte Grenze. Mit der freien Schifffahrt war es damit vorbei. Der Hafen von Elbing (polnisch Elbląg) wurde nahezu bedeutungslos, weil die Schiffe nur eingeschränkt mit vielen Auflagen und Genehmigungen verkehren durften.
Was ist das Frische Haff?
Das Frische Haff ist eine Lagune an der Ostsee. Eine schmale, lange Sandzunge – bekannt unter dem Namen Frische Nehrung – trennt sie vom offenen Meer ab. Es erstreckt sich auf einer Länge von knapp 90 Kilometern zwischen den Städten Elbing (polnisch Elbląg) im Südwesten und Kaliningrad (dem ehemaligen Königsberg) im Nordosten. Ungefähr in der Mitte wird es von der polnisch-russischen Grenze durchschnitten. Die einzige natürliche Verbindung zur Ostsee besteht auf russischer Seite bei Baltijsk. Die Stadt ist der Hauptstützpunkt der Baltischen Flotte und war bis zum Ende der Sowjetunion Sperrgebiet. Die Schifffahrt zwischen dem polnischen Teil des Haffs und der offenen Ostsee wird von Russland, abweichend von internationalen Gepflogenheiten, stark reglementiert.
Polens Schifffahrt nicht mehr von Russland unabhängig
Nun soll sich das ändern. Dafür sorgt ein Kanal durch die Frische Nehrung, der eine künstliche Verbindung zur Ostsee auf polnischem Territorium, unter Umgehung Russlands schafft. Kostenpunkt: mehr als zwei Milliarden Złoty, umgerechnet fast eine halbe Milliarde Euro. Es ist ein Lieblingsprojekt von Jarosław Kaczyński, dem Chef der regierenden PiS-Partei. Für ihn ist der Kanalbau eine Frage der nationalen Ehre und Souveränität.
Wir haben einen Hafen in Elbing, können den aber nicht nutzen, weil ein anderer Staat das nicht erlaubt. Damit ist bald Schluss.
Die ersten Pläne dafür wurden 2006 verkündet. Doch lange Zeit galt der Kanal als eine Art Science Fiction ohne Chancen, jemals wirklich gebaut zu werden. Von der Opposition wurde er als eine größenwahnsinnige, unnütze und exorbitant teure Umweltsünde kritisiert. Doch nun ist er nach zweieinhalbjähriger Bauzeit fertig und der Ukraine-Krieg scheint Kaczyński Recht zu geben. Am Samstag, den 17. September 2022, wurde der Kanal feierlich eröffnet.
17. September: in Polen ein symbolträchtiges Datum
Beobachter gehen davon aus, dass der 17. September 2022 als Eröffnungstermin des neuen Schifffahrtskanals durch die Frische Nehrung mit Absicht gewählt wurde. Es soll sich um ein Zeichen gegen Russlands aggressive Politik handeln. Das Datum ist nämlich geschichtsträchtig. Am 17. September 1939, zweieinhalb Wochen nach dem deutschen Überfall auf Polen, griff auch die Sowjetunion Polen an. Den sowjetischen Angriff auf Polen will Russlands Präsident Wladimir Putin aus dem öffentlichen Bewusstsein ausradieren. In einem Aufsatz lancierte er die von Historikern abgelehnte These, wonach Polen zu Unrecht als Opfer des Zweiten Weltkrieges angesehen werde und in Wahrheit den Krieg angezettelt habe.
Hauptprofiteur des Kanalbaus soll der Hafen von Elbing werden. Sein Umschlagsvolumen könnte sich vervierfachen, vielleicht sogar verfünffachen, sagt Hafenchef Arkadiusz Zgliński. Elbing könnte zu einem Anlaufpunkt für sogenannte Feederschiffe werden. Diese helfen beim Ent- und Beladen der riesigen Überseefrachter, die aufgrund ihrer Maße nur die größten Häfen wie das 50 Kilometer Luftlinie entfernte Danzig anlaufen können. Ihre Container-Ladung wird mit Hilfe von Feederschiffen auf mittelgroße Häfen wie Elbing verteilt, von wo aus der Weitertransport auf dem Landweg erfolgt. Auf dem Rückweg nehmen die Feederschiffe frische Ladung für die Ozeanriesen mit. Aus Elbinger Sicht eine perfekte Arbeitsteilung.
Große Zukunft für den Hafen von Elbing?
Der Hafen von Elbing könnte in Zukunft Schiffe mit bis zu 4,5 Metern Tiefgang und 5.000 Tonnen Tragfähigkeit aufnehmen, berichtet Zgliński. Derzeit ist bei 1.000 Tonnen Schluss. Allerdings bleibt das vorerst nur eine Vision, denn es gibt einen Flaschenhals – die Fahrrinne und die Hafeneinfahrt sind für derart große Schiffe zu seicht. Sie könnten zwar durch den neuen Kanal ins Frische Haff einlaufen, würden aber kurz vor Elbing auf Grund laufen.
Für den Bau einer tieferen Fahrrinne vom Kanal bis zum Hafen ist aber der Staat zuständig, sagt Hafenchef Zgliński. Die Arbeiten daran laufen bereits, werden aber nach Auskunft der Schifffahrtsbehörde in Gdingen noch ein ganzes Jahr dauern – und nach Ansicht von Skeptikern noch deutlich länger. Vorerst werde der Hafen das Potential der neuen Investition also nicht voll ausschöpfen können, bedauert Hafenchef Zgliński, der hier die Schifffahrtbehörde in der Pflicht sieht.
Doch die entgegnet: Auch der Hafen selbst habe nicht alle Hausaufgaben erledigt, denn für die größeren Schiffe müsse dort eine neue Wendestelle entstehen. "Inzwischen sind sechs Jahre ins Land gegangen und der Hafenbetreiber steht mit den Vorbereitungen immer noch da, wo er im Jahr 2016 stand, als der Start dieses mehrjährigen Bauvorhabens bekanntgegeben wurde", sagt der Chef der Schifffahrtsbehörde in Gdingen, Wiesław Piotrzkowski. Den Vorwurf will Hafenchef Zgliński aber nicht auf sich sitzen lassen: Lange Zeit sei trotz der zahlreichen Absichtsbekundungen der Regierung nicht sicher gewesen, ob der Kanal wirklich entstehen werde – große Summen zu investieren, wäre in einer solchen Situation Verschwendung gewesen.
Doch nicht nur in Elbing, sondern auch in den kleinen Küstenorten an der Haffküste, sind die Erwartungen an den neuen Kanal groß. Viele dieser Ortschaften haben eigene kleine Häfen für Fischerboote und die weiße Flotte. Nach der Kanaleröffnung sollen sich diese zu schicken Marinas mausern und wohlhabende Freizeitsegler aus Deutschland und Skandinavien mit ihren teuren Yachten anziehen. Eine dieser Städte ist Frombork, das als eine touristische Perle in der Region gilt. In der hiesigen Kathedrale liegt der weltberühmte Astronom Nikolaus Kopernikus begraben. Mit der Belebung der Schifffahrt würden noch mehr Touristen kommen, hofft man hier, und vor allem länger bleiben, denn bislang zieht Frombork fast ausschließlich Tagesausflügler an. Der dortige Hafen wird gerade auf Staatskosten saniert, auch wenn die Bauarbeiten sich noch bis in den nächsten Sommer hineinziehen.
Hafeneinfahrten am Frischen Haff zu seicht
Doch die anderen kleinen Orte am Frischen Haff gehen vorerst leer aus. Dabei sind auch dort Investitionen nötig, um das Potential des neuen Kanals ausschöpfen zu können. Was fehlt, kann man exemplarisch in Nowa Pasłęka sehen. Der Ort liegt direkt an der Grenze zu Russland, 90 Autominuten von Danzig entfernt. Nur ein paar Vögel bevölkern den Strand – kaum zu glauben, dass schon in wenigen Tagen die ersten Yachten aus der Ostsee in die hiesige Marina einlaufen könnten. Werden sie auch nicht, sagt Hafenmeister Ryszard Doda, denn die beiden Hafenzugänge seien mit 0,5 bis 1,2 Metern Tiefe einfach zu seicht. Wie oft habe er schon ins Wasser steigen müssen, um auf Grund gelaufene Boote zu befreien und zur Pier zu lotsen!
Dabei könnte der Hafen bis zu 100 Schiffe mit einem Tiefgang von bis zu 2,2 Metern aufnehmen. Denn als die hiesige Marina vor neun Jahren saniert wurde, hatte man mit Weitblick geplant. Nur die Hafeneinfahrt bleibt, ähnlich wie in Elbing, ein Flaschenhals. Und auch hier ist nicht der Hafenbetreiber, sondern der Staat zuständig. Doda kämpft mit den Behörden um deren Vertiefung und Verbreiterung – bislang vergeblich. Er befürchtet eine Blamage, die den Ruf der hiesigen Häfen nachhaltig schädigen wird: "Es werden Boote unter fremden Flaggen hierher kommen. Und dann werden sie hundert Meter vor der Hafeneinfahrt Stopp machen und auf Grund laufen. Glauben Sie wirklich, dass sie jemals wieder wiederkommen?"
Dabei wären die Kosten seiner Schätzung nach überschaubar – für alle kleinen Marinas im polnischen Teil des Frischen Haffs maximal fünf Millionen Złoty (umgerechnet gut eine Million Euro). Angesichts der gut zwei Milliarden Złoty, die der Kanalbau verschlang, ist das aus seiner Sicht eine Lappalie. Für die Schifffahrtsbehörde ist das aber kein Pappenstiel: "Wir können diese Baumaßnahmen nur im Rahmen unseres Budgets durchführen", entgegnet der Chef der Schifffahrtsbehörde und verweist auf den Hafen von Frombork, der gerade auf Staatskosten saniert wird. Er hat sich nichts vorzuwerfen: "Wir sind bereit und relativ erfolgreich bei der Revitalisierung der Häfen."
Während sich die Beteiligten gegenseitig Vorwürfe machen, scheint eines klar zu sein: Obwohl der Kanal nun mit viel Pomp eröffnet wird, bleibt sein Nutzen vorerst begrenzt. Polens maritimer "Schuss" gegen Russland droht zu einem Rohrkrepierer zu werden – einer teuren Touristenattraktion, die nur ein paar Freizeitseglern nützt. Ryszard Doda, der Hafenmeister von Nowa Pasłęka, hat ohnehin eine andere Vision für sein geliebtes Haff. Mit seinem seichten, warmen Wasser könnte es zu einem Paradies für Kitesurfer werden. Die Sportart ist in Polen gerade im wahrsten Sinne des Wortes im Aufwind. Das derzeitige Kitesurfing-Mekka auf der Hela-Halbinsel platzt aus allen Nähten. "Ich würde mir das sehr wünschen. Die Kitesurfer hätten hier neue Möglichkeiten – ohne solche Mondpreise wie anderswo. Und für das Haff wären die bunten Lenkdrachen eine neue Touristenattraktion."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 17. September 2022 | 07:15 Uhr