Bialowieza an der Grenze zu Belarus Wie ein Grenzzaun in Polen Touristen verschreckt
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10. August 2022, 04:16 Uhr
Die Region um den Bialowieza-Urwald im Nordosten Polens war monatelang gesperrt. Der Grund: Im einstigen Touristenhotspot an der Grenze zu Belarus wurde nach der Migrationskrise von 2021 ein Zaun errichtet. Nun ist das Gebiet wieder freigegeben – doch die Urlauber bleiben weg. Viele Anwohner bangen um ihre Existenz.
Kurz nach Sonnenaufgang bricht Alina Filinowicz jeden Morgen in den Wald auf. Ihr Haus steht im Urwald von Bialowieza, 500 Meter von der Grenze zu Belarus. "Es ist mein Ende der Welt", sagt sie. Im Urwald kennt sie alle Ecken und Winkel. Sie weiß, wo man Wisente treffen kann. "Am besten sind sie im Winter zu sehen. Im Sommer nur frühmorgens, weil sie sich später tief im Wald vor der Hitze verstecken", erklärt sie. Fast buchstäblich vor der Haustür hat die ehemalige Ladenverkäuferin und Dorfvorsteherin alles, worum sich hier normalerweise Touristen aus der ganzen Welt reißen.
Das Urwaldgebiet rund um Bialowieza umfasst rund 150.000 Hektar, wovon 62.000 Hektar in Polen und der Rest in Belarus liegen. Hier sind viele Tierarten zu Hause, darunter Wölfe, Luchse und Hirsche, doch der Wisent ist der unangefochtene König. In diesem Winter wurden auf der polnischen Seite des Urwalds 780 Wisente gezählt. Wer Glück hat, kann die riesigen Tiere auch in freier Wildbahn entdecken. Ein Paradies für Naturliebhaber.
Ein Zaun, der sein Ziel verfehlt
Doch die einst idyllische Welt wurde getrübt, als Polens Regierung vor einem halben Jahr mit dem Bau eines fast 200 km langen Grenzzauns begann, der Flüchtlinge fernhalten soll. Seit September 2021 versuchen tausende Menschen, unter anderem aus Syrien, dem Irak und afrikanischen Ländern, aus belarussischem Gebiet in die EU zu gelangen.
Nun ist der Zaun fast fertig, doch offenkundig verfehlt er sein Ziel. Denn auch der Klingendraht, der den über fünf Meter hohen Zaun krönt, scheint die Menschen auf der Flucht nicht abzuschrecken. Nach wie vor registriert der polnische Grenzschutz jeden Tag mehrere illegale Grenzübertrittsversuche aus Belarus nach Polen. An einigen Tagen sind es zehn, an anderen 30 oder 90 Fälle. Meistens sind es kleinere Gruppen als im Herbst.
"Eine Zerstörung der Natur"
"Was der Zaun gemacht hat, ist eine Zerstörung der Natur. Die Waldwege wurden von schweren Militär- und Baufahrzeugen vernichtet. Aber die Flüchtlinge hat er nicht gestoppt", sagt Alina Filinowicz. Auf ihren Waldwanderungen sähe sie oft Kleidungsstücke, Schuhe oder Taschen, die anscheinend von den flüchtenden Menschen hinterlassen wurden. "Jetzt klettern sie über den Zaun oder graben Gräben darunter, um auf Matten auf die polnische Seite zu rutschen. Es ist nicht schwierig, zumal es am Zaun noch keine Überwachungselektronik gibt, das alles wird erst installiert."
Flüchtlingshelfer, die seit September 2021 ununterbrochen an der Grenze arbeiten, bestätigen diesen Eindruck. "Allein in der ersten Juliwoche haben uns mehr als 200 Menschen um Hilfe gebeten", erzählt Aleksandra Chrzanowska von der Hilfsorganisation "Grupa Granica". Nicht immer geschehe der Grenzübertritt der Flüchtlinge dabei gänzlich aus eigener Kraft, berichtet die Freiwillige: "Wir hören auch Geschichten darüber, wie von belarussischer Seite Werkzeuge zur Verfügung gestellt werden, um den Zaun zu durchschneiden oder den Stacheldraht oben auf der Mauer zu durchtrennen."
Auch Chrzanowska ist überzeugt, dass der Grenzzaun nicht für ein Ende der Fluchtbewegung sorgen wird: "Keine Mauer auf der Welt hat bisher Menschen aufgehalten, die verzweifelt versuchen, ihr Leben zu retten und in eine sichere Welt zu gelangen."
Monatelange Sperrung legt Tourismus lahm
Zehn Monate war das Gebiet entlang der polnisch-belarussischen Grenze abgesperrt und so vom Rest der Welt getrennt – erst wegen der vielen Flüchtlinge und dann wegen des Baus des Grenzzauns. Zum 1. Juli wurde die Sperrung aufgehoben, seitdem darf die Region um Bialowieza wieder Touristen empfangen.
Christine und Dietrich aus der Nähe von Berlin wollten schon immer hierherkommen. "Wir haben den geplanten Urlaub in England storniert, weil es uns zu teuer wurde, und uns kurzfristig für eine Fahrradtour durch Polen entschlossen", sagen sie. Und da stand selbstverständlich der Touristenmagnet Bialowieza auf der Liste. Weder Medienberichte von der Migrationskrise noch der Zaunbau hat sie abgeschreckt. "Nein, da hatten wir keine Bedenken, also wir fühlen uns hier ganz sicher. Man sieht hier schon viel Militär, das ist nicht so schön, aber man kann es verstehen", erklärt Christine.
Doch der Gedanke, dass sich in der Nähe ihrer Fahrradrouten dramatische Schicksale der Flüchtlinge abspielten, lasse sie nicht los. Dietrich ist in West-Berlin aufgewachsen, ihm sei so etwas wie eine Mauer "auf eine unangenehme Weise vertraut". "Und jetzt Urlaub zu machen direkt wieder in der Nähe eines solchen Zauns, der neu errichtet worden ist, ist beklemmend", sagt er.
Knappe drei Wochen nach der Öffnung des Grenzgebiets genießt das Paar aus Brandenburg aber auch viele Vorteile, wie etwa die seltene Möglichkeit, Bialowieza in Ruhe zu erkunden zu können und auf ihren Fahrradtouren kaum anderen Touristen zu begegnen. Die Gegend ist halbleer. Im Zentrum von Bialowieza patrouillieren polnische Soldaten, die die Grenze bewachen. Verkäuferinnen an den Ständen mit Plüschwisenten und Schlüsselanhängern in Form eines Wisentkopfes haben kaum etwas zu tun. Am Informationsstand kann man direkt einen Reiseführer für eine Tour im Naturschutzgebiet bekommen, früher unmöglich, da musste man im Voraus buchen.
Nach Angaben des Nationalparks wird Bialowieza normalerweise von 170.000 Touristen pro Jahr besucht, 30.000 davon kommen im Juli. Dieses Jahr sei bislang kaum die Hälfte gekommen.
Hoffnung auf die Rückkehr der Touristen
In der schicken Kneipe "Carska" , wo die Tische im alten Bahnhofsgebäude und an Bahnsteigen aus dem 19. Jahrhundert stehen und man Tatar vom Hirsch oder Stör mit Spargel bekommt, findet man derzeit problemlos Platz. "Früher war es undenkbar, dass man um diese Zeit – es ist 14 Uhr, also Mittagszeit – einen freien Tisch ohne Reservierung gefunden hat", sagt der Restaurantchef und Miteigentümer Konrad Omiecinski. Auch er hat unter der monatelangen Abriegelung von Bialowieza gelitten.
Er hatte in dieser Zeit keine Besucher, weder im Restaurant noch in den Hotelzimmern, die in restaurierten Bahnwaggons eingerichtet wurden. Eine kleine finanzielle Hilfe vom Staat konnte nur einen Teil der festen Kosten decken. "Ich habe aber die ganze Zeit meine Mitarbeiter bezahlt, obwohl sie nichts zu tun hatten. Damit haben wir hoffentlich den Kern unseres Geschäfts, also unsere Küche, erhalten. Aber ich stecke tief in den Schulden", so Omiecinski. In Juli rechnet er nicht mal mit der Hälfte der Umsätze, die er sonst in diesem Monat hatte.
Auch Alina Filinowicz möchte wieder Touristen empfangen. Die Vermietung ihrer Gästezimmer, die in den letzten Monaten leer standen, sorgte früher für eine wichtige Aufstockung des Familienhaushalts. Doch auch jetzt, nach der Öffnung der Sperrzone, gibt es kaum Besucher. Alina vermutet, dass sich manche Menschen von der Nähe zu Belarus abschrecken lassen. "In den Medien sieht es oft dramatisch aus. Aber wir leben hier ganz normal, das Alltagsleben ist so ruhig wie immer", versichert sie.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell Fernsehen | 06. Januar 2022 | 19:30 Uhr