Kosovo Nach der tödlichen Schießerei im Kosovo: Dein Terrorist ist unser Held

07. Oktober 2023, 04:44 Uhr

Nach der Schießerei im Nordkosovo ist zwischen der serbischen und der kosovarischen Führung ein Kampf um die Deutung entbrannt, wer in dem Konflikt die "Terroristen" sind. Auch verbal wird hoch gerüstet und die serbische Bevölkerung im Kosovo ist verunsichert. Ängste, die die serbische Regierung zu schüren weiß.

Fotomontage Mann vor Fahne
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Am 24. September kamen bei einem Feuergefecht im Dorf Banjska im Norden des Kosovo ein Albaner und drei Serben ums Leben: ein kosovarischer Polizist und drei schwer bewaffnete Angreifer. Auf beiden Seiten wurden mehrere Menschen verwundet. Eine schwer bewaffnete, etwa drei Dutzend Mann starke serbische paramilitärische Einheit und einige Hundert kosovarische Polizisten hatten sich eine bewaffnete Auseinandersetzung geliefert.

EU, USA und Nato reagierten prompt und äußerst besorgt, denn das Kosovo hat, zurecht, den Ruf eines "Pulverfasses", und niemand braucht neben dem Krieg in der Ukraine eine zweite bewaffnete Auseinandersetzung in Europa. Die Dauerkrise entwickelte sich an jenem Sonntag zu einen "kleinen Krieg", wie einige serbische Medien die jüngste Eskalation beschrieben.

Gegensätzliche Darstellungen Serbiens und Kosovos

Doch was ist da vor den Augen der EU-Mission Eulex, der internationalen Friedenstruppe KFOR und einer unergründlichen Anzahl von Geheimdienstleuten aus aller Herren Länder eigentlich passiert? Wer waren diese bewaffneten Serben? Und was wollten sie tatsächlich?

Die Antworten auf diese Fragen unterscheiden sich so sehr voneinander, wie die ethnisch getrennten Trauerfeiern auf beiden Seiten: Albaner weinten um ihren Polizisten, Serben um ihre Landsleute. Das allein sagt so einiges aus über den Stand eines Konflikts, den der Westen seit Jahrzehnten vergebens zu lösen versucht.

Pristina: "Terroristischer Angriff" auf kosovarische Polizei

Aus der Sicht der Regierung in Pristina gibt es gar keinen Zweifel, was da passiert war: Serbische "Terroristen" angeführt von einem gewissen "Kriminellen" Milan Radoičić, gegen den die USA bereits vor einiger Zeit unter anderem wegen "Korruption, Verletzung von Menschenrechten, illegalem Drogen- und Waffenhandel" Sanktionen verhängt hatten, hätten einen "terroristischen Akt" verübt.

Die enorme Waffenmenge und sonstige logistische Unterstützung habe die Gruppe von den Machthabern in Belgrad erhalten, behauptet Kosovos Regierungschef Albin Kurti. Dementsprechend sei Serbien ein "terroristischer Staat", beziehungsweise ein Staat der "Terrorismus fördert". Serbiens immer autoritärer regierenden Präsidenten Aleksandar Vučić pflegt Kurti "kleinen Putin" zu nennen. Jetzt verdächtigt der kosovarische Premier Kurti Russland, in den Angriff bewaffneter Serben involviert gewesen zu sein. Außerdem forderte er den Westen nach dem "terroristischen Angriff auf die Souveränität des Kosovo" auf, Sanktionen gegen Serbien zu verhängen.

Der mutmaßliche Anführer der bewaffneten Serben, Milan Radoičić, war Vizepräsident der "Serbischen Liste", der dominanten Partei der Serben im Kosovo und einer Tochterpartei der in Serbien uneingeschränkt regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) von Vučić. Zwar räumte Radoičić über seinen Anwalt seine maßgebliche Rolle bei der bewaffneten Auseinandersetzung im Nordkosovo ein, jedoch bezeichnete er sich in seinem Statement als "nicht schuldig". Schließlich habe er ja "lediglich" die von "albanischen Besatzern" schikanierten Serben verteidigen wollen, was ja keine Straftat sein könne.

Sofort feierten regimetreue serbische Medien in Serbien Radoičić als "Helden". Er wurde am Dienstag, ganze acht Tage nach der Bluttat, in Belgrad festgenommen, gleich am Tag darauf aber wieder aus der Haft entlassen. Der zuständige Richter meinte, es gebe keine Fluchtgefahr, Radoičić dürfe aber seinen Aufenthaltsort nicht verlassen. In Pristina fordert man die Auslieferung des "Terroristen". Das jedoch ist mehr als unwahrscheinlich, denn Serbien erkennt das Kosovo nicht an.

Serbische Medien: "Heldenhafter Widerstand" der Kosovo-Serben

Während man im Kosovo von "serbischen Terroristen" spricht, feiert man dieselben Männer in Serbien wiederum als "Helden des Widerstands gegen Kurtis Terror". Den Ton gab Serbiens Staatspräsident Aleksandar Vučić vor, der in einer seiner unzähligen Ansprachen an das Volk erklärte: "Diese Menschen werden für mich nie und nimmer Terroristen sein."

Diese Menschen werden für mich nie und nimmer Terroristen sein.

Aleksandar Vučić | Serbiens Präsident

Danach wetterte die gleichgeschaltet wirkende Boulevardpresse in eben diesem Stil weiter: "Serbische Helden lassen ausrichten – wir sind keine Terroristen", "Die Vertreibung der Serben im Kosovo wird fortgesetzt", "Terror im Nordkosovo – Kurtis Halbstarke (Polizisten) schlagen im (serbischen) Krankenhaus alles kurz und klein" oder "Kurtis wütende Hunde attackieren Serben".

In dieser Logik sieht die serbische Interpretation des Geschehens wie folgt aus: Die Serben seien eigentlich in eine Falle der Albaner geraten, wurden gejagt und kaltblütig liquidiert, und zwar nachdem sie sich ergeben hatten.

Mittwoch, den 27. September, erklärte die serbische Regierung dann zum Staatstrauertag. In ganz Serbien läuteten die Glocken der orthodoxen Kirchen, es wurden massenhaft Kerzen für die "gefallenen serbischen Helden" angezündet. In mehrheitlich von Serben bewohnten Gemeinden im Nordkosovo wurde die offizielle Trauer für ganze drei Tage ausgerufen. In der EU wiederum empörten sich einige Staaten darüber, dass Belgrad wegen in einem Feuergefecht mit der Polizei erschossener "Terroristen" Staatstrauer verhängt.

Die Logik des "vorübergehend besetzten Territoriums"

Um das aus serbischer Perspektive nachvollziehen zu können, muss man die richtige Frage stellen: Was ist jemand, der Mitglieder einer bewaffneten Truppe einer Okkupationsmacht in seinem Vaterland umbringt? Ist er ein Terrorist, oder ein Held?

Aus der Sicht der Serben ist das Kosovo die Wiege des Serbentums, ein Bestandteil Serbiens und "vorübergehend besetzt" von "sezessionistischen" Albanern, denen der Westen dazu verholfen hat, die "heilige serbische Erde" mit Gewalt von Serbien abzutrennen. So steht es sinngemäß in der serbischen Verfassung und das wiederholen fast alle serbischen Politiker und Medien unentwegt. In dieser Lesart ist die "sogenannte" kosovarische Polizei nichts anderes als eine Besatzungsmacht.

Tatsächlich sind die im Kosovo lebenden Serben wirklich verzweifelt. Sie leben in einer Art Ghetto, im rechtstaatlichen Niemandsland, eingezwängt zwischen der Politik von Kurti und Vučić. Kurti will um jeden Preis beweisen, dass Serbien im Kosovo nicht mehr das Sagen hat. Vučić dagegen, der Kurti "terroristischen Abschaum" nannte, will zeigen, dass das Kosovo seine Unabhängigkeit gegen Vučićs Willen niemals wird vollenden können. Die im Kosovo lebenden Serben sind in die Zwickmühle dieser Politik geraten.

Nordkosovo wiederum ist für kosovarische Polizisten feindliches Territorium, und sie benehmen sich dementsprechend taktlos. Erst im November 2022 haben die im Kosovo lebenden Serben auf Anweisung von Vučić aus Protest alle Institutionen des Kosovo verlassen – Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte, Rathäuser. So ist sich die serbische Bevölkerung dort praktisch selbst überlassen.

Doch was wollte "Kommandant" Radoičić in dieser Situation erreichen? Vielleicht wird man das nie erfahren. Aber so mancher Serbe, der ihm folgte, mag wohl ehrlich geglaubt haben, seine leidenden Landsleute vor dem unerträglichen "Terror Kurtis" verteidigen zu müssen. Das Vokabular serbischer Politiker und Medien mochte diese Serben in ihrer Annahme bestätigt haben.

MDR (usc)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 04. Oktober 2023 | 09:17 Uhr

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