Geschichtspolitik 2. Weltkrieg: Ukraine will eigene Gedenkstätte in Berlin

10. November 2020, 14:39 Uhr

Viele Orte des Vernichtungskriegs im Osten Europas sind hierzulande unbekannt. Ein Gedenkprojekt in der Ukraine will das ändern. Im Ort Lypowez soll an die Opfer der Nazi-Besatzung erinnert werden. Aber auch in Berlin soll eine Gedenkstätte entstehen, fordert der ukrainische Botschafter in Deutschland.

Am östlichen Rand von Lypowez, einer unauffälligen Kleinstadt von 9.000 Einwohnern säumen weite Sonnenblumenfelder die Landstraße, die ins 200 Kilometer entfernte Kiew führt. Ein schmaler Schotterweg führt von ihr zu einem frisch gestrichenen Obelisken. An dieser Stelle befindet sich das größte von insgesamt drei bekannten Massengräbern im Umkreis von Lypowez.

In sogenannten "Aktionen" erschossen die Deutschen Besatzer, Wehrmacht und SS, hier ab April 1942 über 950 Menschen. Bis vor kurzem haben Tiere oder Schatzgräber die Knochen aufgewühlt. Doch seit September 2019 ist das Grab durch einen Steinwall geschützt und mit Informationsstehlen versehen.

Organisierter Massenmord der Deutschen

Von den Einwohnern können nur Wenige etwas über das Schicksal der Lypowezer Juden berichten, obwohl diese 1940 noch gut die Hälfte der Bevölkerung stellten. Alexander Iwanowitsch Rogowoj, ein pensionierter Lehrer, kennt ihre Geschichte hingegen gut. Der ehrenamtliche Lokalhistoriker hat in einem alten Bürgerhaus ein Archiv zur Stadtgeschichte eingerichtet.

Gedenkstein unter großem grünen Baum in weitläufiger Landschaft
An der Erschießungsstelle nahe der Ortschaft Lypowez in der Zentralukraine erinnert heute ein Gedenkstein an die Opfer der deutschen Besatzung. Bildrechte: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas/Anna Voitenko

Zwischen überquellenden Dokumentenstapeln und Aktenordnern findet er einen Augenzeugenbericht seiner Mutter, geschrieben in der Perestrojka-Zeit. Damals war dieser angeblich der erste Artikel zum Holocaust in Lypowez. Er beschreibt die erste "Aktion" am Rande des alten jüdischen Friedhofs im September 1941.

Bei der sollen ungefähr 170 Juden, 30 Sowjetfunktionäre und 17 Kriegsgefangene getötet worden sein, sagt Rogowoj: "Man ließ die Gefangenen eine Grube schaufeln, stellte einige am Rand auf - dann Maschinengewehrsalven. Sie fielen in die Grube und die nächsten mussten an den Rand treten. Einheimischen berichteten, dass sich die Erde noch einige Tage später bewegte." 

Ukraine fordert Gedenkstätte in Berlin

Historiker sprechen vom "Holocaust durch Kugeln", der der Ermordung in den Vernichtungslagern vorausging. Rund zwei Millionen Juden wurden in Osteuropa meist am Rande ihrer Ortschaften erschossen und verscharrt. Allein in der Ukraine geht man von 2.000 Massengräbern aus. Dass in den Orten selbst kaum etwas darüber bekannt ist liegt auch an der sowjetischen Erinnerungspolitik, die nur "Opfer des Faschismus" kannte. In ihr gibt es keine individuellen Opfergruppen: gefallene Soldaten, getötete Zivilisten und vergaste Juden werden
zusammen gerechnet und als eine Opfergruppe dargestellt.

Von "geraubter Geschichte" spricht der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, und meint damit zugleich die ukrainische Geschichte. Heute betrachte man die Geschichte der Juden in der Ukraine als Teil der eigenen Identität, stellte er bereits vor einem Jahr bei einer Ausstellung zu den ukrainischen Massengräbern im deutschen Auswärtigen Amt fest. Auf dem diplomatischen Parkett gehen die neuen Töne in der Gedenkpolitik aber auch mit einer nationalen Selbstbehauptung einher.

So betonte Melnyk die Opfergemeinschaft von Juden und Ukrainern während der Okkupation und forderte eine eigene Gedenkstätte in Berlin, so wie es die Regierung in Warschau für die polnischen Opfer der deutschen Besatzung getan hatte. Am 30. Oktober hatte der Deutsche Bundestag beschlossen, der polnischen Forderung nachzukommen. Zusätzlich zum bereits beschlossenen Dokumentationszentrum der deutsche Besatzung in Europa soll nun eine Gedenkstätte für die sechs Millionen von polnischen Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft entstehen.

Holocaust-Aufarbeitung in den Schulen

Im Schatten der Diplomatie gibt es in der Ukraine auf lokaler Ebene aber auch immer mehr engagierte Bürger, die sich um das Gedenken an den Holocaust kümmern. In Lypowez etwa erforscht die Lehrerin Olena Nenjukova mit ihren Schülern die jüdische Geschichte ihres Ortes, in dem es heute keine Juden mehr gibt.

Gemeinsam haben sie drei große Informationstafeln erarbeiten und im Schulflur aufgestellt. Jeden Tag gehen die Schüler an der vorbei und werden an die Geschichte erinnert, erklärt die Lehrerin stolz. In der 10. und 11. Klasse gibt es außerdem einen eigenen Kurs "Geschichte des Holocaust".

17 neue Gedenkorte in der Ukraine

Nenjukova nimmt am Bildungsprogramm von "Erinnerung bewahren" teil, einem Projekt der deutschen Stiftung "Denkmal für die ermordeten Juden Europas". Unter Einbeziehung lokaler Historiker und Lehrer wurden insgesamt wurden in 17 ukrainischen Ortschaften Gedenk- und Informationstafeln realisiert. Die am Stadtrand von Lypowez ist eine davon.

Inhaltliches Gerangel zwischen deutschen und ukrainischen Projektpartnern gab es um die Benennung der Täter, zu denen neben den deutschen Besatzern auch lokale Helfer gehörten. Der Kompromiss lautet nun: "deutsche Besatzer und ihnen unterstellte Dienststellen". Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs im Osten Europas, sie bleibt politisch ein umkämpftes Feld.  

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR | 04. November 2020 | 22:00 Uhr

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