Wolhynien-Jahrestag: Polens "Holocaust-Gesetz" erzürnt die Ukraine
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17. Januar 2019, 15:06 Uhr
9. Februar 1943: Ukrainische Partisanen beginnen, tausende polnische Zivilisten zu ermorden. Bis heute belasten die Massaker die Beziehung der Nachbarländer. Und pünktlich zum 75. Jahrestag im Februar 2018 hat Polens Parlament Öl ins Feuer gegossen.
Bis vor Kurzem galt Polen als eine Art "Anwalt der Ukraine" in Europa, mancher sprach großmütig vom "Brudervölkern". So machte sich Warschau lange für eine EU- und NATO-Mitgliedschaft des Nachbarlandes stark. Im Konflikt in der Ostukraine ergriff Polen vehement Partei für Kiew, ebenso nach der russischen Annexion der Krim. Außerdem leben etwa eine Million Ukrainer in Polen, sie stellen die mit Abstand größte Minderheit des Landes.
Doch mit der einstigen Eintracht ist es spätestens seit Ende Januar 2018 vorbei. Da verabschiedete das polnische Parlament das international kritisierte "Holocaust"-Gesetz. Das stellt es unter Strafe, deutsche Vernichtungslager als "polnische KZ" zu bezeichnen, aber auch – was wenig beachtet wird – die Leugnung der sogenannten Wolhynien-Massaker, die während des Zweiten Weltkriegs von Ukrainern an Polen und Juden verübt worden waren.
Streit um Massaker mit 100.000 Toten
Gemeint ist damit ein dunkles Kapitel der ukrainisch-polnischen Geschichte, das sich während des Zweiten Weltkriegs in den Regionen Galizien und Wolhynien abspielte. Diese waren bis 1945 polnisches Territorium, liegen heute aber größtenteils in der Westukraine.
Während der deutschen Besatzung kam es dort zwischen dem 9. Februar 1943 und August 1944 zu Massakern der nationalistischen "Ukrainischen Aufständischen Armee" (UPA) an polnischen und jüdischen Zivilisten. Historiker schätzen, dass dabei bis zu 100.000 Menschen getötet wurden. Auch ukrainische Freiwillige der SS-Division "Galizien" sollen sich an den Massakern beteiligt haben.
Verbrecher in Polen, Helden in der Ukraine
Jedoch gelten insbesondere die UPA-Kämpfer vielen westukrainischen Nationalisten bis heute als heldenhafte Widerstandskämpfer gegen die Sowjetunion. Der politische Flügel der UPA, die "Organisation Ukrainischer Nationalisten" (OUN), wurde von Stepan Bandera geleitet. Er ist für viele Ukrainer ein Nationalheld, in Polen und Russland jedoch wegen der Massaker ein Kriegsverbrecher.
Polnische Historiker versuchen seit Längerem, die Massaker in Wolhynien und Galizien aufzuarbeiten. Eine dafür eingesetzte Kommission will die Leichen der Opfer in der Westukraine exhumieren. Jedoch wurde ihre Arbeit von der Ukraine gestoppt. Verantwortlich dafür sind laut polnischem Außenministerium unter anderem Mitarbeiter der ukrainischen Erinnerungskommission, gegen die Polen im Gegenzug im November 2017 Einreiseverbote verhängte.
Ukraine: Einseitige polnische Geschichtsschreibung
Die Ukraine wiederum beschuldigt Polen, die Umtriebe antiukrainischer Nationalisten zu dulden. So wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche ukrainische Grabsteine und Denkmäler in Polen verwüstet.
Außerdem würde Polen die Vergeltungsaktionen nach den Massakern, die Angehörige der "Polnischen Heimatarmee" (AK) an der ukrainischen Bevölkerung verübten, bis heute nicht aufarbeiten, so die Replik aus Kiew. Diesen Racheakten fielen Schätzungen zufolge 10.000 bis 20.000 Ukrainer zum Opfer. Auch die gewaltsame Zwangsumsiedelung ukrainischer Zivilisten nach dem Zweiten Weltkrieg wird Polen vorgehalten.
PiS gestaltet Geschichtspolitik um
Mit dem polnischen "Holocaust"-Gesetz erreichte der Streit einen neuen Höhepunkt. Dass dies kurz vor dem 75. Jahrestag der Massaker geschah, war ganz im Sinne Warschaus. Seit ihrer Amtsübernahme 2015 versucht die nationalkonservative Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), die polnische Geschichtspolitik weitreichend umzugestalten.
So reformierte sie die Lehrpläne und die nationale Filmförderung, um den Fokus der Geschichtsvermittlung auf die Heldentaten der polnischen Nation zu legen. Auch ein monatelanger Streit um die neue Ausstellung des "Museums des Zweiten Weltkriegs" in Danzig drehte sich um die Frage, ob diese zu wenig Fokus auf polnische Heldentaten lege.
Heldenmythos als politisches Programm
Gleichzeitig wird jegliche Thematisierung einer Beteiligung polnischer Bürger an Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs als Angriff auf Polen gebrandmarkt. Nach der internationalen Kritik an dem "Holocaust"-Gesetz erklärte Premierminister Mateusz Morawiecki stattdessen:
Keiner von den Juden, die den Holocaust überlebt haben, hätte es ohne Hilfe von Polen geschafft.
Der 100. Jahrestag von Polens Unabhängigkeit, Kommunalwahlen, die als Gradmesser für die Parlamentswahl 2019 gelten - das Jahr 2018 war vollgepackt mit Gedenktagen, die das unbefleckte polnische Heldentum widerspiegelten. Dies spielte der Regierung dabei in die Hände, so das Kalkül. Die Beziehungen zu Verbündeten, Nachbarn und ehemaligen "Brüdern" waren dabei zweitrangig.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Heute im Osten - Reportage | 22.04.2017 | 18:00 Uhr