Ein Bild im jüdischen Viertel in Vilnius.
Das jüdische Viertel von Vilnius Bildrechte: IMAGO / Zoonar.com/HGVorndran

Litauen Der schwierige Umgang mit dem Holocaust

25. Januar 2019, 10:18 Uhr

In Litauen schwelt bis heute eine Debatte über den Holocaust. Vor drei Jahren hatte sie die Autorin Ruta Vanagaite mit ihrem Buch "Die Unsrigen" angeschoben. Im Werk geht es um die unrühmliche Rolle litauischer Nationalhelden als Täter des Holocaust. Können Helden gleichzeitig auch Täter sein? Darüber streiten die Litauer.

Hat Litauen ein Problem mit der Aufarbeitung des Holocaust im eigenen Land? Nein, sagen viele Politiker und Historiker. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der zweiten Unabhängigkeit von 1991 beschäftige sich das Land sehr wohl kritisch mit der eigenen Vergangenheit und verschweige auch nicht die Rolle der litauischen Bevölkerung bei der Vernichtung litauischer Juden. Die vielen Gedenkstätten und wissenschaftlichen Publikationen zum Thema seien der beste Beweis dafür. Auch im Holocaust-Museum in Vilnius werde die Rolle der Kollaborateure nicht verschwiegen und 1994 habe sich der damalige Präsident Algirdas Brazauskas bei einem Besuch in Israel für die Rolle seiner Landsleute bei der Judenvernichtung entschuldigt.

Vanagaite thematisiert die Rolle der litauischen Bevölkerung beim Holocaust

Die in Litauen geborene Publizistin Ruta Vanagaite ist dagegen anderer Meinung: Zwar gebe es den akademischen Diskurs zum Holocaust, im breiten Bewusstsein der Bevölkerung sei das Thema aber nicht vorhanden. Deswegen hat sie das Buch "Die Unsrigen" geschrieben, in dem sie die unrühmliche Rolle der litauischen Bevölkerung beim Holocaust beschreibt. Das Buch löste Anfang 2016 einen Skandal aus, die Autorin wurde als Nestbeschmutzerin beschimpft und offen angefeindet. Sie verließ schließlich das Land und zog nach Israel.

Der größte Stein des Anstoßes bestand darin, dass sie litauische Nationalhelden als Täter bei der Judenvernichtung dargestellt hat. Denn im öffentlichen Bewusstsein der Litauer gilt die Einverleibung des Landes durch die Sowjetunion als die größte nationale Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Kämpfer für die Unabhängigkeit gelten entsprechend als Nationalhelden. Und Helden können keine Täter sein.

Juden wurden mit Bolschewisten gleichgesetzt und verfolgt

Ebenso wie die beiden anderen baltischen Staaten Estland und Lettland erlangte auch Litauen mit dem Zusammenbruch des Russischen Zarenreichs 1918 seine Unabhängigkeit. Doch verlor das Land sie wieder, als im Sommer 1939 der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen wurde und die Sowjetunion kurze Zeit später das Baltikum und Teile Polens unter seine Kontrolle brachte. In Litauen ging mit dieser Besatzung eine Verhaftungswelle einher. Rund 35.000 Menschen, die dem sowjetischen System kritisch gegenüberstanden, wurden von der sowjetischen Geheimpolizei - dem NKWD - verhaftet und deportiert oder ermordet.

Als im Juni 1941 Hitler-Deutschland die Sowjetunion überfiel, wurden die baltischen Staaten und damit auch Litauen erobert. Für die litauische Bevölkerung kam der Überfall einer Befreiung von der verhassten Sowjetmacht gleich. Für die litauischen Juden dagegen war das der Beginn einer Katastrophe. Denn die vorrückende Wehrmacht wurde im Land von antisowjetischen Partisanengruppen der Litauischen Aktivistenfront unterstützt. In ihrem Bewusstsein, ebenso wie im Bewusstsein vieler Litauer, wurden Juden wegen ihrer aktiven Beteiligung an der Russischen Revolution von 1917 mit den Bolschewisten gleichgesetzt. Zeitgleich mit dem Einmarsch der Deutschen begannen schwere Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung, die zu ihrer nahezu vollständigen Vernichtung führten.

Die Allgegenwärtigkeit des Todes

Bereits Anfang Dezember 1941 hat der SS-Standartenführer Karl Jäger nach Berlin berichtet, dass Litauen praktisch judenfrei sei. Nach nur einem halben Jahr deutscher Besatzung wurden von den 220.000 Juden, die 1940 noch in Litauen lebten, 137.346 ermordet. Den Holocaust überlebten nur rund 10.000 litauische Juden. Und während dieser in Westeuropa vor allem mit der industriemäßigen Vernichtung in Gaskammern assoziiert wird, lief er in Litauen eher an zufälligen Orten ab, wo Juden massenhaft erschossen wurden. Im ganzen Land sind 227 solcher Orte historisch belegt.

Auch viele Litauer beteiligt

Viele Litauer haben bei der Ermordung der Juden eifrig mitgeholfen. "20.000 Menschen waren als Wachleute und als Mitglieder von Erschießungskommandos daran beteiligt. 36.000 Menschen wirkten in der Verwaltung mit", zählt Vanagaite in einem Interview des russischen Dienstes der BBC auf. Und obendrein hätten sich litauische Zivilisten an dem Massenmord bereichert. "Nach den Erschießungen gab es in jeder Stadt Versteigerungen jüdischen Eigentums. Also sind die Leute, die zu diesen Versteigerungen gingen, auch daran beteiligt, oder nicht?"    

Verdrängung statt Bewältigung

Doch das will in Litauen kaum einer hören. Insbesondere in Zeiten, da der große Nachbar Russland wieder mit den Säbeln rasselt und alte Ängste der Balten erneut zum Vorschein bringt, sagen viele Litauer, das Land brauche Einigkeit. Die Suche nach den Tätern in eigenen Reihen würde dagegen Zwietracht säen. Man solle lieber darüber schweigen, wer wen erschossen hat, so die weit verbreitete Meinung.

Hat Litauen also ein Problem mit der Aufarbeitung des Holocaust im eigenen Land? Eindeutig ist diese Frage kaum zu beantworten. Doch die antisemitischen Stimmungen scheinen bis heute sehr lebendig zu sein. Erst 2018 hat das unabhängige amerikanische Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center in einer Umfrage festgestellt, dass 23 Prozent der Litauer ein Problem mit jüdischen Mitbürgern hätten. Ein negativer Spitzenwert in Osteuropa.  

(den/Takie Dela/Radio Svoboda/BBC/NZZ)

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR Zeitreise Spezial: Zeugen des Holocaust | 27.01.2019 | 22:20 Uhr

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