Ausblick Europawahl 2024: Rechtsruck in Europa?
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21. Dezember 2023, 16:38 Uhr
In vielen EU-Ländern sind rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch. Die Sorge vor einem Rechtsruck bei den Europawahlen 2024 steigt. Einige Politiker sprechen sogar schon von einer "Schicksalswahl". Einzig das Wahlergebnis in Polen dürfte ihnen Hoffnung geben.
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Der 22. November 2023 war ein besonderer Tag für Europas Rechte. Geert Wilders gewann die Parlamentswahl in den Niederlanden überraschend deutlich. Wenig überraschend gehörte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán zu den ersten Gratulanten. Mit Blick auf Europa schrieb er auf "X" (ehemals Twitter) von "winds of change" – inklusive Bild vom pfeifenden Scorpions-Sänger Klaus Meine. Und Orbán liegt richtig. Der Wind in Europa hat sich gedreht. In Deutschland schwingt die AfD seit Monaten von einem Umfragehoch zum nächsten. In Österreich ist die FPÖ laut Meinungsforschern aktuell mit großem Abstand die stärkste Partei. In Ungarn sitzt mit Viktor Orbán ein rechtspopulistischer Ministerpräsident und ausgesprochener EU-Gegner seit 2010 fest im Sattel. Und auch in Italien, Schweden und Finnland regieren rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien mit.
Europas Rechte im Aufwind
Aktuellen Umfragen zufolge wird sich dieser Rechtsruck bei der Europawahl im Juni 2024 fortsetzen. "Europe Elects", eine Plattform, die Umfragen aus den verschiedenen EU-Ländern zusammenträgt, geht in seiner jüngsten Analyse davon aus, dass die rechtsextreme Fraktion Identität und Demokratie (ID) bei der Europawahl deutlich dazugewinnen und damit zur drittstärksten Kraft im Straßburger Parlament aufsteigen könnte.
In Deutschland zeigen sich deshalb Politikerinnen und Politiker aus den verschiedenen politischen Lagern besorgt. "Wir werden nächstes Jahr mit aller Kraft gegen einen Rechtsruck im europäischen Parlament kämpfen müssen“, sagte Terry Reintke, Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl, im November 2023. CSU-Chef Markus Söder bezeichnete die Abstimmung angesichts des befürchteten Rechtsrucks sogar als "Schicksalswahl für den gesamten Kontinent".
Trotz voraussichtlicher Rekordergebnisse für Rechtspopulisten und Rechtsextreme bei der Europawahl sehen Meinungsforscher bislang keine Anzeichen dafür, dass es für eine Mehrheit im EU-Parlament reichen könnte. Die politische Schlagkraft der europäischen Rechten hänge auch davon ab, wie erfolgreich sie sich in Straßburg organisieren, sagt der Politikwissenschaftler Tobias Spöri von der Universität Wien. Die Rechte habe es trotz mehrfacher Versuche auf europäischer Ebene bisher noch nicht geschafft, sich zu vereinigen.
Was sind Europawahlen? Die Europawahl findet seit 1979 alle fünf Jahre statt. Alle wahlberechtigten EU-Bürgerinnen und Bürger wählen mit jeweils nur einer Stimme die Abgeordneten des EU-Parlaments. Bei der Wahl im Juni 2024 werden es insgesamt 720 Abgeordnete sein. Wie viele Abgeordnete aus welchem Land in das Parlament in Straßburg gewählt werden, hängt von der Größe des jeweiligen EU-Mitgliedsstaats ab. So haben einwohnerreiche Länder wie Deutschland (96) und Frankreich (81) mehr Sitze als etwa Lettland (9) oder Malta (6). Allerdings wählt man nicht die einzelnen Kandidaten, sondern Parteien, die diese dann nach Straßburg entsenden. Im Parlament schließen sich die Abgeordneten dann im Regelfall Fraktionen ähnlicher politischer Ausrichtung an. Die größte dieser Fraktionen ist aktuell die Europäische Volkspartei (EVP). Die Wahlbeteiligung bei der Europawahl ist traditionell niedrig. In Deutschland betrug sie 2019 überdurchschnittliche 61 Prozent, in der Slowakei allerdings nur knapp 23 Prozent. EU-weit ging vor fünf Jahren im Durchschnitt nur jeder zweite zur Wahl.
Wahl in Polen als Gegenbewegung?
Und es gibt auch gegenteilige Tendenzen. So wurde in Polen die rechtskonservative PiS-Regierung abgewählt. Der langjährige Europapolitiker Donald Tusk führt nun als Ministerpräsident eine liberalkonservative Koalition an und unterstrich bei seiner Vereidigung das klare Bekenntnis seines Landes zur EU. Polen wolle wieder eine Führungsrolle in der Union übernehmen, so Tusk. "Die Wahl in Polen stärkt die EU maßgeblich", sagt Politikwissenschaftler Tobias Spöri gegenüber der MDR-Osteuroparedaktion. Als fünftgrößtes Land spiele Polen politisch, wirtschaftlich und zunehmend auch militärisch eine bedeutende Rolle in der Union. Auch könne der Wahlausgang nun dazu führen, mehr Druck im Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn auszuüben, so Spöri. Die PiS-Regierung hatte Ungarn mit ihrer Blockadehaltung stets geschützt, sodass das Verfahren seit Jahren de facto auf Eis liegt.
Wahlbeteiligung in Osteuropa gering
Ob die Wahl in Polen eine Strahlkraft auch auf andere Länder in der Region haben wird, ist fraglich. Denn vor allem bei der Europawahl ist die Wahlbeteiligung in den östlichen Mitgliedsstaaten sehr gering. In Tschechien, Kroatien, Slowenien und der Slowakei lag sie 2019 sogar bei unter 30 Prozent. Viele Menschen in der Region seien frustriert über die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in ihren Ländern seit 1989, sagt Politikwissenschaftler Spöri. "Außerdem fühlen sich viele noch immer als EU-Bürger zweiter Klasse." Mit Blick auf die Europawahl dürfte die geringe Wahlbeteiligung besonders Parteien am rechten Rand nutzen - das allerdings nicht nur in den östlichen EU-Ländern. Denn auch in den meisten westeuropäischen Mitgliedsstaaten liegt die Wahlbeteiligung bei Europawahlen deutlich unter der von nationalen Wahlen.
Die letzte Wahl vor fünf Jahren könnte allerdings eine Trendwende gewesen sein. Denn nicht nur war die Wahlbeteiligung die höchste seit 20 Jahren. 2019 ist sie sogar zum ersten Mal in der Geschichte der Europawahl überhaupt gestiegen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Sachsenspiegel | 17. Dezember 2023 | 19:00 Uhr