Natalia Protassewitsch, Mutter des inhaftierten Regierungskritikers Roman Protassewitsch, weint bei einer Pressekonferenz in Warschau.
Natalia Protassewitsch, Mutter des inhaftierten Regierungskritikers Roman Protassewitsch, weint bei einer Pressekonferenz in Warschau. Bildrechte: IMAGO / ZUMA Wire

Repression Belarus: Die Angst geht um

05. Juli 2021, 15:22 Uhr

Die EU-Staaten haben weitere Sanktionen gegen Belarus beschlossen. Diplomaten zufolge belegt die EU sieben Verantwortliche mit Einreise- und Vermögenssperren, auch 71 weitere Personen sind von Sanktionen betroffen. Hintergrund ist die Umleitung einer Ryanair-Maschine nach Minsk und die anschließende Verhaftung des Regierungskritikers Roman Protassewitsch. Doch längst schlägt der Polizeiapparat von Präsident Alexander Lukaschenko nicht nur bei Journalisten und Oppositionellen zu. Ein Bericht aus Belarus.

In Belarus geht seit Monaten die Angst rum. Jede Woche muss jemand das Land verlassen, aus Furcht sonst im Gefängnis zu landen. Mittlerweile gibt es fast 500 politische Gefangene: Journalistinnen, Blogger, Politiker, Freiwillige des oppositionellen Wahlkampfteams - und einfache Internet-User, die kritische Kommentare über Polizisten, Spezialeinheiten oder den Präsidenten in sozialen Netzwerken posteten.

Die Uhr nach der Polizei stellen

Ein bekannter Journalist beschrieb den Tagesablauf eines Belarussen scherzhaft so: 7 Uhr möglicherweise Hausdurchsuchung. 7:30 Uhr aufstehen, 8 Uhr unabhängige Nachrichten lesen, um zu wissen, bei wem es eine Durchsuchung gab. 10 Uhr Beginn der Gerichtsprozesse, 11 Uhr möglicherweise Besuch der Finanzpolizei. 12 Uhr Nachrichten lesen, um zu wissen, wen die Finanzpolizei aufgesucht hat. Und so läuft es bis zum Abend. Der Post, als Scherz gedacht, ging viral, weil zu viel daran wahr ist. Ein Kollege sagte einst: "Wenn ich spät morgens aufstehe, gegen 11 Uhr oder so, dann bin ich ruhig, denn heute kommt keiner zu mir nach Hause, heute bleibe ich frei."

Der Kollege meinte nur so genannte Strafverfahren. Ob man kurzfristig verhaftet wird (für zehn bis 15 Tage), bleibt unvorhersehbar. Oft ist dahinter keine Logik zu erkennen. Im Mai gab es eine Protestaktion von Frauen, die in weißer Kleidung weiße Rosen auf den Boden legten, als Symbol gegen die Gewalt. Die Reporterin, die das fotografierte, musste dafür zehn Tage hintern Gittern verbringen.

Die Identifizierung von Demo-Teilnehmerinnen war da schon komplizierter. Zwar kann die Polizei über das Mobilfunknetz den Aufenthalt von Personen bestimmen, aber die Frauen hatten keine Handys dabei und trugen zudem Sonnenbrille und Mundschutz. In den darauffolgenden Tagen wurde ein Dutzend Frauen in ihren Häusern verhaftet und zu zehn bis 15 Tagen Haft verurteilt. Nur eine davon sagte aus, dass sie tatsächlich an der Aktion beteiligt war - andere wussten offenbar gar nicht davon. Es scheint, dass die Polizei einfach diejenigen mitgenommen hatte, die mit ihren Handys mehr oder weniger zur gleichen Zeit in der Nähe waren. Einerseits ist das eine Einschüchterungsstrategie, anderseits wohl einfach Erfüllung eines "Verhaftungsplans" - so wie in der sowjetischen Planwirtschaft.

Entsetzliche Haftbedingungen

Die Bedingungen für kurzfristig Inhaftierte sind entsetzlich. Die Menschen verbringen 15 Tage (einige sogar 30) ohne Dusche, Kleidung zum Wechseln und weil kein Platz da ist, schlafen sie auf dem Boden. In eine Zelle, die eigentlich für vier Menschen geeignet ist, werden bis zu 16 Menschen gesperrt, wie aus Erfahrungsberichten hervorgeht. Kleidung und Hygieneartikel, die Freunde und Angehörige ins Gefängnis bringen, werden nicht weitergegeben.

Menschenrechtsorganisationen sind sich sicher: Es gibt weiterhin Folter in den Gefängnissen. Vor einem Monat starb ein politischer Gefangener im Gefängnis, die Umstände sind bis heute unklar. Ein anderer Inhaftierter versuchte im Gerichtssaal, Selbstmord zu begehen. Wenigen Minuten davor erzählte er, dass die Sicherheitskräfte ihm drohten, seine Verwandten zu verfolgen.

Der Ryanair-Flug hat alles verändert

Mitten in dieser Ungerechtigkeit und Brutalität gibt es erste Anzeichen für Freilassungen - zumindest eines Teils der politischen Gefangenen. Ihnen wird nahegelegt, ein Begnadigungsgesuch an Staatspräsident Alexander Lukaschenko zu stellen, sagen Familienangehörige. Die Regierung will Europa ein Zeichen geben, um die Rücknahme der neuen, diesmal ernsthaften wirtschaftlichen Sanktionen, zu erreichen. Der belarussische Außenminister organisierte sogar ein Treffen mit den europäischen Botschaftern.

Dass man auf europäischer Ebene Sanktionen ausspricht, dafür muss Lukaschenko sich bei sich selbst bedanken. Die Entführung eines ausländischen Fluges war kein Zeichen von Stärke, sondern von Inkompetenz und Naivität. Wenn es im Umfeld des belarussischen Präsidenten einen Flugexperten und einen nüchternen Analytiker gäbe, welche die Konsequenzen verstanden und diese dem Staatsoberhaupt erklärt hätten - Lukaschenko hätte sich wohl nie getraut, so eine riskante Operation durchzuführen.

Inhaftierte außerhalb der Wahrnehmung

Wenn man in Belarus oppositionelle Politiker, Blogger, Aktivistinnen oder Journalistinnen verhaftet, wird das über Menschenrechtsorganisationen und Medien publik. Wenn aber Geschäftsführer und Oligarchen verschwinden, bleibt das für die Öffentlichkeit verborgen. Weder melden offizielle Behörden dies, noch berichten Journalisten davon.

Im März wurde die Verhaftung von Juri Tschiz bekannt. Der Geschäftsmann, der vor zehn Jahren noch von europäischen Sanktionen betroffen war, galt mehrere Jahre als eine der Schlüsselfiguren des Regimes. Vor fünf Jahren verbrachte er wegen Steuerhinterziehung ein paar Monate hinter Gittern, wurde wieder freigelassen und arbeitete weiter. Wo er und sein Geschäftspartner sich jetzt befinden, ist unklar - wie der Verbleib mehrerer weiterer Unternehmer. Der Besitzer einer Supermarktkette soll Gerüchten nach vor ein paar Monaten aus der Haft entlassen worden sein. Der inoffizielle Grund für die Verhaftung war wohl, dass die Top-Manager der Firma aktiv Proteste unterstützt hatten. Laut Quellen in Geschäftskreisen soll er fünf Millionen US-Dollar für seine Freilassung gezahlt haben.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 16. Juni 2021 | 15:00 Uhr

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