Belarus "Wir führen euch zur Erschießung": Belarussische Gefängnisgewalt
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27. Oktober 2020, 05:00 Uhr
In Belarus hat aus Protest gegen Präsident Lukaschenko gestern ein landesweiter Generalstreik begonnen. Die Demonstrationen sind friedlich, doch werden von Woche zu Woche gefährlicher. Polizei und Geheimdienst verschleppen immer mehr Protestierende ins Gefängnis. Viele kommen zwar schon nach kurzer Zeit wieder frei, doch ihre Qualen waren entsetzlich. Ein Journalist aus Minsk, der lieber anonym bleiben möchte, hat mit Landsleuten gesprochen, die in belarussischen Gefängnissen gequält wurden.
Die Belarussen gelten als friedliches Volk. Zerstörte Schaufenster und demolierte Autos sucht man dort während der Proteste gegen den Wahlbetrug Lukaschenkos vergebens. Stattdessen trifft man auf freundliche, hilfsbereite Leute, die bemüht sind, sich an Regeln zu halten.
Trotzdem geht die Polizei sehr gewaltvoll gegen ihre Einwohner vor. Hunderte wurden verhaftet, viele sitzen bis heute in den staatlichen Gefängnissen. Mehr als 450 Klagen haben Belarussen im UN-Ausschuss gegen Folter eingereicht. Doch im Land selbst ermittelt niemand gegen die willkürliche Polizeigewalt.
Ein Journalist in Belarus hat für uns Menschen getroffen, die gefangen genommen und misshandelt wurden. Er hat ihre Erlebnisse geschildert. Es sind Protokolle des Schreckens.
Andrei Viarschenia ist 37 Jahre und fuhr am 11. August durch die Hauptstadt Minsk, um Freunde nach Hause zu bringen.
"Es gab einen Stau im Zentrum. Überall standen schwerbewaffnet Polizisten der Spezialeinheit in schwarzer Kleidung. Sie richteten ihre Waffen auf uns, zogen uns aus dem Auto und schlugen zu. Dann nahmen sie mir mein Handy weg und sahen Fotos sowie Videos von einer Protestaktion von dem Tag. In meinem Rucksack fanden sie Wasserstoffperoxid, medizinische Bandage, Herztabletten und schrien: "Guck mal, hier sind Bandagen, ein ganzer Medizinkasten, er ist vorbereitet". Sie sagten: "Alles klar, das sind Revolutionäre." Und begannen, mich zu verprügeln.
"Das gefällt dir, Tier, nicht wahr?"
Sie legten mich auf den Fußweg, einer der Männer trat mit seinem Bein auf meinen Kopf, zwei andere auf meine Füße, sie banden meine Hände zusammen und traten und schlugen weiter, einige mit den Füßen, andere mit den Knüppeln. "Das gefällt dir, Tier, nicht wahr? Wolltet ihr Veränderungen? Na, was hälst du von dieser Veränderungen? Wieviel hat man euch gezahlt?" Sie waren überzeugt, dass jemand uns bezahlt hat. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein.
Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma
Als ich erwachte, lag ich auf dem Asphalt im Innenhof in Akrestina (Anm. d. Red. ein Gefängnis in Minsk für kurzfristige Festnahmen) und sie prügelten mich mit einem Knüppel, damit ich wieder zu Bewusstsein komme. Dann brachten sie mich wie andere zu einem Zaun und befahlen uns, zu knien. Nach einigen Stunden sollten wir zu einer Untersuchung kriechen, ich konnte ein Bein nicht mehr spüren und da ich nicht schnell genug kriechen konnte, wurde ich wieder geschlagen. Ich weiß nicht wieviel Zeit verging ... dann erbrach ich mich und verlor erneut das Bewusstsein.
Es kam ein Rettungsdienst, sie brachten mich ins Auto und fuhren mich ins Krankenhaus. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma, stumpfe Bauchverletzung, breite Hämatome des Gesäßes und des Rückens, Blutbildungen in der Nähe der Oberschenkelarterie."
Jakau Suchnat ist 21 Jahre alt und wurde er auf dem Weg nach Hause verschleppt.
"Ich war auf dem Weg nach Hause, telefonierte gerade als Polizisten und andere Kräfte in zivil mir mein Handy wegnahmen und mich auf den Boden drückten. Sie befahlen mir, mein Smartphone zu entsperren und da ich nicht sofort es machen wollte, schlugen sie mich.
"Wieviel Geld hast du bekommen?"
Auf meinem Handy fanden sie verschiedene regierungskritische Telegram-Kanäle und auch SMS von meinen Freunden. Es gab ja zu der Zeit kein Internet, deswegen bekam ich SMS wie "OMON ist in Uruchcha" (Anm. d. Red. Name eines Minsker Bezirks) oder "Festnamen an den Haltestellen". Das sahen sie und begannen sofort zu fragen "Wer ist dein Koordinator?", "Wieviel Geld hast du bekommen?". Dabei schlugen sie mich. Wenn ich versuchte, das Gesicht zu schützen, schlugen sie ins Gesicht, wenn ich meine Ohren schützte, dann schlugen sie die Ohren.
Sie brachten mich zur Polizeiwache. Mir war übel und ich sagte, dass ich gleich erbreche. Ich durfte nach draußen und versuchte, wieder zur Besinnung zu kommen. Da sah mich einer der Mitarbeiter in einer Sturmhaube: "Bringen wir ihn in den Autozak (Anm. d. Red. Minibus), damit die Kollegen Spaß haben können". Mit "Spaß" meinten sie, mich zu verprügeln. Und genau so kam es.
Sie brachten mich in die Sporthalle der Polizeistation. Hier waren schon ungefähr 200 Menschen. Wir saßen auf Knien, unsere Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ich hatte bereits ein Schädel-Hirn-Trauma und konnte meinen Kopf nicht lange unten halten. Aber das schien allen egal. Von medizinischer Hilfe war überhaupt keine Rede. Ungefähr 24 Stunden mussten wir dort ausharren. Ohne Essen, ohne Wasser.
1,5 Liter Wasser für 90 Menschen
Sie brachten uns ins Akrestina, wo es einen Gerichtsprozess gab. Der dauerte ungefähr drei Minuten. Der Richter sagte, dass ich wegen Teilnahme an einer Massenaktion zu zehn Tagen Haft verurteilt sei. Er sagte, ich wurde am 12. August in einem anderen Stadtteil festgenommen, obwohl der Ort und der Tag der Festnahme überhaupt nicht stimmten. Die darauf folgende Nacht verbrachte ich in einem Hof für Ausgänge unter freiem Himmel. Ein kleiner Hof, circa fünf mal acht Meter. Wir waren 90 Festgenommene auf diesem Raum. Wieder gab es kein Essen. Nur einmal wurde uns für 90 Menschen eine 1,5 Liter Flasche Wasser gegeben.
Morgens wurden wir ins LTP 100 Kilometer von Minsk entfernt gefahren. (Anm. d. Red. LTP ist eine Justizvollzugsanstalt für Alkohol- und Drogensüchtige). Da war es besser: Die dortigen Mitarbeiter gaben uns Essen, alle bekamen ein eigenes Bett, wir durften duschen. Also im Vergleich zu Akrestina war das ein 5-Sterne Hotel.
Nach meiner Freilassung kam ich ins Krankenhaus und musste ein paar Tage da bleiben. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma, Gehirnerschütterung, Hämatome am ganzen Körper, Ohrenverletzung. Aber ich hatte noch Glück gehabt, es gab da Menschen, die vollkommen violett waren."
Aliaksej Zavadskij ist 33 Jahre alt und wollte als Wahlbeobachter direkt nach der Wahl Klage bei der zuständigen Kommission einreichen.
"Ich war Wahlbeobachter in Minsk und als die Wahllokale schlossen, gingen wir zusammen mit den anderen Beobachtern zur Wahlkommission, um Klage einzureichen. Wir standen am Eingang, als die Polizisten kamen und mich und zwei weitere Beobachter festnahmen und zur Polizeiwache brachten. Ich wusste, dass sie die Möglichkeit einer Verhaftung bestand, aber ich war akkreditierter Beobachter und finde diese Arbeit wichtig.
Einige Zeit war ich bei der Polizeiwache, dann kamen Mitarbeiter der OMON und brachte uns nach Akrestina. Ich kam in eine Zelle für sechs Menschen, da waren aber insgesamt 37 Menschen. Es war so heiß, man konnte kaum atmen. Wir baten, Fenster und Türe zu öffnen, aber als Antwort kamen nur Drohungen. Einem aus unser Zelle war sehr übel, wir baten um einen Arzt. Die Ärztin, die bei Akrestina angestellt war, begann zu schimpfen: "Ihr wart gesund genug, zu protestieren".
Es gab kein Essen, wir tranken nur Leitungswasser. Die Mitarbeiter zwangen uns, falsche Aussagen zu unterschreiben. Ich wurde zu zehn Tagen Haft verurteilt.
In der ersten Nacht wurden wir geweckt. Die Wärter befahlen uns, schnell in den Innenhof zu gehen. Da sah ich zwei Minibusse auf dem Rasen, sie standen so, dass hinter ihnen kein Licht war. Sie befahlen uns, da zu laufen und auf Rasen zu legen. Und begannen zu schlagen und zu brüllen: "Welche Änderungen wolltet ihr?" Sie zwangen uns die Nationalhymne zu singen. Wir sangen und wurden während des Singens geschlagen. Ich habe keine Ahnung wie lange es dauerte.
"Wir führen euch zur Erschießung"
Plötzlich mussten wir aufstehen und uns wurde gesagt "Wir führen euch zur Erschießung". Wir mussten wieder vor dem Zaun stehen, Kopf unten, Hände auf die Wand. Ich sah plötzlich, dass von meinem Kopf Blut auf den Boden tropfte. Das war für mich merkwürdig, ich merkte gar nicht, dass mein Kopf verletzt war. Einer nach dem anderen ließen sie uns frei. Und sagten "Da ist die U-Bahn, lauf schnell, wenn wir dich in fünf Minuten hier sehen, kriegst du Probleme".
Und ich lief so schnell wie möglich. Als ich Autos sah, versuchte ich mich zu verstecken. Ich hatte Angst, dass es Polizisten sein könnten. Alle meine Sachen sind im Gefängnis geblieben. Ich hatte kein Handy, keine Schlüssel. Ich wartete bis die ersten Busse anfingen zu fahren und fuhr zu meinen Eltern. Auf dem Weg fiel ich ein paar Mal in Ohnmacht. Ich weiß nicht warum, vielleicht wegen Hunger oder Stress oder beidem.
Es war schwer zu schlafen, die ersten Nächte träumte ich von OMON. Später ging ich zum Arzt. Diagnose: Muskel- und Sehnenverletzung auf Oberschenkelhöhe, oberflächliche Verletzungen."
MDR AKTUELL Fernsehen | 21. August 2020 | 17:45 Uhr