Russland Moskau: Siegesparade in Zeiten des Krieges
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09. Mai 2022, 19:28 Uhr
Die diesjährige Militärparade zum 9. Mai, dem Tag des Sieges der Sowjetunion über Hitlerdeutschland, bekommt schon im Vorfeld viel mediale Aufmerksamkeit. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine ist das wenig überraschend. Bei einem der Probeläufe mit hunderten Zuschauern hat sich unsere Reporterin umgehört, was dieses Jahr anders ist.
"Es ist sehr ungewöhnlich, Panzer im Stadtzentrum zu sehen", sagt eine junge Zuschauerin namens Ksenia. Dabei erleben wir hier in Moskau dieses "Spektakel" jedes Jahr. Doch ich muss ihr Recht geben: Die vorbeirollenden Panzer und Raketen sehen in der Hauptstadt surreal aus. Vor allem will ich von der jungen Frau aber wissen, ob sie in diesem Jahr, in dem Russland einen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, etwas Besonderes empfindet. "Ja", gibt sie zu. Beim Anblick dieser Kriegstechnik müsse sie daran denken, dass diese Panzer nicht nur bei einer Militärparade über Moskaus Straßen rollen können, sondern auch in anderen Städten. Und zwar unter ganz anderen Umständen. "Das macht das Ganze schon beängstigender", sagt sie.
Stolz auf die Armee
Um zu verstehen, was sie mir erzählt, muss ich mich anstrengen. Das Geräusch der brüllenden Panzermotoren und Raupenketten auf der prachtvollen Twerskaja Straße, die direkt zum Roten Platz führt, ist fast ohrenbetäubend. An beiden Straßenrändern haben sich gegen sieben Uhr abends hunderte Zuschauer hinter Absperrgittern versammelt. Vor den Absperrungen stehen zum Schutz der Parade jeweils im Zehn-Meter-Abstand Soldaten der russischen Nationalgarde. Das Publikum ist bunt gemischt, alle Altersgruppen sind zu sehen, auch viele Kinder.
Die Zuschauer filmen die Kriegstechnik und machen Selfies mit ihren Handys. Einige winken den vorbeifahrenden Soldaten zu. Oder den „Soldatchen“, wie eine ältere Dame namens Lidia sie liebevoll nennt. Sie sei stolz auf diese Technik und die Militärs. Die "Aktivitäten" der Armee in der Ukraine seien zwar sehr unangenehm, aber richtig. "Anders hätte es nicht sein können", ist Lidia überzeugt. Sie unterstütze ihren Präsidenten Wladimir Putin voll und ganz. "Mit so einem Präsidenten werden wir siegen."
Das Wort, das ich an diesem Abend am häufigsten höre, ist "Stolz". Ich höre es von einem Familienvater, der seinen dreijährigen Sohn auf dem Arm hält. Er sei stolz auf die russische Armee, die das Land beschütze und ihren Status bereits unter Beweis gestellt habe. Der kleine Junge hat ein Schiffchen auf dem Kopf und hält eine kleine russische Fahne in der Hand. Es sei schwer, diese ganze Situation rund um die Ukraine zu beobachten, fährt der Vater fort. Doch sein Land stehe unter dem Schutz einer dermaßen mächtigen Armee, dass es nichts fürchten müsse.
Die allgemeine Stimmung an diesem Mittwochabend ist eher ruhig. Keine Euphorie, kein Sekt, keine patriotischen Rufe nach dem Motto „Russland, nach vorne!“. Manche Zuschauer scheinen zufällig auf der Twerskaja Straße gelandet zu sein, wie etwa die junge Frau namens Katja, die ich auf Anfang 20 schätze. Sie sei gerade unterwegs gewesen, um ein paar Dinge zu erledigen, sagt sie. Da sei sie aus der U-Bahn gekommen und habe plötzlich die Panzer und Raketen gesehen. Sie schaue sich die Parade sonst immer im Fernsehen an, doch das hier sei etwas ganz anderes. "Für mich ist der Tag des Sieges schon immer ein ganz besonderes Fest gewesen. Ich feiere ihn immer mit meiner Familie", fügte sie noch hinzu. Michail, ein junger Mann um die 30, wirkt ganz entspannt und schwärmt von dem schönen Wetter und der festlichen Stimmung. In diesem Jahr empfinde er mehr Patriotismus.
"Bitte keine Propaganda!"
Eine Familie aus dem südrussischen Krasnodar ist extra angereist, um sich den Probelauf der Parade in Moskau anzusehen. Sobald ich erwähne, dass ich für ein deutsches Medium arbeite, werden sie stutzig. "Wir wollen uns an keiner Propaganda beteiligen", sagt eine der Frauen zu mir. Welche Propaganda sie genau meint, wird nicht klar. Sie hat wohl Angst, ich könnte ihre Worte irgendwie verdrehen oder die ganze Familie in schlechtem Licht erscheinen lassen. Ich wolle ja nur wissen, was sie an diesem Tag empfinden, beschwichtige ich. "Stolz", antwortet die erste Frau kurz und knapp. Die zweite Frau führt aus: Sie seien alle stolz darauf, in einem Land zu leben, dass seine Bürger immer beschützen könne. "Aber vor allem wollen wir Frieden", fügt die erste Frau etwas leiser hinzu. "Frieden?", frage ich nach. "Natürlich. Aber ich bitte Sie, wir wollen uns an keiner dreckigen Politik beteiligen." "Wir glauben an unseren Präsidenten und vertrauen ihm", stellt die Zweite sofort klar.
Die Reaktion der beiden Frauen kann ich verstehen. Nach dem neuen Gesetz, welches die Diskreditierung der russischen Armee unter Strafe stellt, sind viele Bürger vorsichtiger geworden. Pazifistische Äußerungen werden von den Befürwortern der "Sonderoperation in der Ukraine", wie der Krieg hier in Russland offiziell heißt, oft mit einer solchen "Diskreditierung der Armee" gleichgesetzt. Deshalb wird das Wort "Frieden" manchmal nur halblaut ausgesprochen, gefolgt von einer Klarstellung, auf "welcher Seite" man steht. Auf Seiten Russlands selbstverständlich – und seiner Armee!
Gerüchte um Generalmobilmachung
Rund um die bevorstehende Parade ranken sich momentan viele Gerüchte. So schreiben westliche Medien etwa, Putin werde am 9. Mai der Ukraine offiziell den Krieg erklären und zugleich eine Generalmobilmachung ausrufen. Als "Lüge" und "Quatsch" wies Kremlsprecher Dmitri Peskow diese Spekulationen zurück. "Nein, nein, nein!", antwortete Parlamentssprecher Wjatscheslaw Wolodin auf eine Journalistenfrage zur möglichen Generalmobilmachung. Laut einem anderen Gerücht wollte Putin diesen Krieg unbedingt bis zum 9. Mai gewonnen haben, um dem Tag eine neue Bedeutung zu verleihen. Vor kurzem erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow aber, dass das russische Militär seine Aktivitäten in der Ukraine nicht "künstlich beschleunigen" werde, damit das Ende der "Spezialoperation" mit dem 9. Mai zusammenfalle. Auch wird gemunkelt, dass an der Parade Militärs teilnehmen sollen, die in der Ukraine kämpfen. Offizielle Angaben gibt es dazu nicht.
Bleibt eine üppige Feier dieses Jahr aus?
Viele fragen sich auch, ob die Militärparade in diesem Jahr besonders üppig ausfallen wird, um den Nationalstolz zu stärken und zugleich die eigene militärische Macht zu demonstrieren. Dafür spricht derzeit jedoch nicht viel. Wie das Verteidigungsministerium in Moskau vor einigen Tagen bekannt gab, nehmen 131 Einheiten Kriegstechnik an der Parade teil und damit weniger als im Vorjahr. 2021 waren es 191 Einheiten. Es sollen auch weniger Militärs an der Gedenkfeier teilnehmen. Ausländische Staatsführer bleiben der Parade offenbar fern – selbst die aus "freundlichen Staaten" wie Belarus oder dem international nicht anerkannten Abchasien. Laut Kremlsprecher Peskow hat Moskau keine ausländischen Politiker eingeladen, weil der 77. Jahrestag des Kriegsendes "kein Jubiläumsdatum" sei.
Bekannt ist allerdings, dass diesmal MiG-Kampfjets im Himmel über Moskau in einer Formation des Buchstaben "Z" fliegen werden. Das "Z" ist in Russland zum offiziellen Symbol des russischen Krieges gegen die Urkaine geworden. Zudem soll eine speziell für den Atomkrieg konstruierte Iljuschin-80 – von den Medien "Weltuntergangsflugzeug" getauft – den Roten Platz überfliegen. Die Iljuschin 80 soll im Falle eines Atomkrieges als Kommandozentrale für den Präsidenten dienen. Zuletzt war dieses Flugzeug bei der Siegesparade im Jahr 2010 über der russischen Hauptstadt gesichtet worden. Ob Putin damit eine weitere Botschaft an die Welt senden will? Am Montag bei der Siegesparade dürften viele Fragen beantwortet werden.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 07. Mai 2022 | 07:15 Uhr