Osterglocken aus Papier sollen an den Aufstand von 1943 erinnern.
Osterglocken aus Papier sollen an den Aufstand von 1943 erinnern. Bildrechte: Magda Starowieyska/Museum POLIN

Polen, 25.04.2017 Trägt Polen eine "Mitschuld" an der Ermordung von Juden im Zweiten Weltkrieg?

17. Januar 2019, 16:46 Uhr

Am 22. Juli 1942 beginnt die SS, das Warschauer Ghetto zu räumen. Neun Monate später wehren sich die verbliebenen Juden gegen ihre Deportation. Die Geschichte des Ghettoaufstands beschäftigt Polen bis heute.

Monika Sieradzka
Bildrechte: Monika Sieradzka/MDR

Kurz vor dem Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto 1943 hielt der Historiker Marcin Zaremba im April 2017 einen Vortrag im Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau. Für viele Zuhörer waren seine Thesen ein Schock: Die Polen hätten im Krieg, konkret zwischen Oktober 1939 und Sommer 1944, mehr Juden als Deutsche umgebracht. Das rüttelt am Selbstbewusstsein vieler Polen, die – wie früher von den Kommunisten – von der aktuellen Geschichtspolitik der Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) als durchweg heldenhafte Nation dargestellt werden.

Debatte über den polnischen Antisemitismus

Historiker Zaremba lieferte seinen Zuhörern handfeste Beweise und Zahlen: Zwischen Oktober 1939 und Sommer 1944 seien im von Deutschland besetzten Polen 1.300 Deutsche getötet und mehr als 10.000 Juden ermordet oder an die Nazis ausgeliefert worden – und zwar von Polen. Auch wenn die "Hetz- und Jagdatmosphäre, die Toleranz für Mord" von den Nazis geschaffen worden sei, wie Zaremba hinzufügte. Er sprach vom starken polnischen Antisemitismus. Ein Tabuthema. Und doch: Die schwierigen Beziehungen zwischen Polen und Juden sind inzwischen Teil einer offenen Debatte geworden.

Jahrzehntelanges Schweigen

Das jahrzehntelange Schweigen über polnisches Mitwirken am Holocaust hat im Jahr 2000 der Historiker Jan Tomasz Gross mit seinem Buch "Nachbarn" gebrochen. Er beschreibt den Judenpogrom im ostpolnischen Dorf Jedwabne von 1941, an dem polnische Dorfbewohner beteiligt waren. 2012 berichtet Zaremba in seinem Buch "Große Angst" über Plünderungen jüdischer Häuser durch Polen, über Denunziationen der Juden durch polnische Kollaborateure und über andere Pogrome während des Holocausts. Zu Pogromversuchen sei es bereits 1940 im besetzten Warschau gekommen. Zaremba erinnert zudem an die Tatsache, dass bei der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto auch die polnische Polizei beteiligt war.

Der Warschauer Ghetto-Aufstand Am 10. April 1943 begann die Jüdische Kampforganisation (ZOB) den Aufstand im Warschauer Ghetto, in dem zu dieser Zeit noch über 50.000 Menschen lebten. Der Widerstand dauerte bis zum 16. Mai. Danach wurde das Ghetto vollständig zerstört. Der Ghetto-Aufstand wird häufig mit dem Warschauer Aufstand verwechselt - einer militärischen Revolte der polnischen Heimatarmee im August 1944.

Gegen die offizielle Geschichtspolitik

Das alles passt nicht ins Bild des heroischen polnischen Volkes, wie es die aktuelle Geschichtspolitik zu präsentieren versucht. Hier werden ganz andere Fakten in den Vordergrund gestellt: Im besetzten Polen seien beispielsweise mehr Juden gerettet worden als in anderen Ländern. Als Paradebeispiel wird derzeit gerne auf das Museum für die Familie Ulma im südostpolnischen Markowa verwiesen. Die achtköpfige polnische Familie gab zwei jüdischen Familien Obhut und bezahlte das mit dem Leben. Das Museum wurde vor einem Jahr durch Präsident Andrzej Duda feierlich eröffnet. Unumstritten sind auch die Verdienste der Organisation "Zegota", die von der polnischen Exilregierung gegründet wurde und Tausenden von Juden geholfen hat. Doch weniger nationaleuphorische Historiker verweisen darauf, dass damals in Polen schließlich auch die meisten europäischen Juden überhaupt gelebt haben – was zumindest die Zahlen stark relativiert.

Die Einstellung zu den Juden wird positiver

Der Umgang mit der eigenen Mitschuld an der Vernichtung der Juden ist eines der heikelsten und schwierigsten Themen in der heutigen öffentlichen Debatte in Polen. Doch sowohl das Wissen um die früher verschwiegenen Fakten als auch die Einstellung zu den Juden ändert sich. Laut Umfragen des Instituts CBOS ist die Sympathie der Polen mit den Juden von 15 Prozent (1993) auf 28 Prozent (2015) gestiegen und die Abneigung gegen Juden von 51 Prozent auf 32 Prozent gesunken.

Das jährliche Gedenken des Aufstandes

Von Jahr zu Jahr melden sich immer mehr Freiwillige für die Erinnerungsarbeit am Jahrestag des Ghetto-Aufstands. Dieses Jahr werden 10.000 Menschen, darunter bekannte Persönlichkeiten, auf den Straßen Warschaus 100.000 Osterglocken aus Papier verteilen. Das soll die Warschauer an den heroischen und hoffnungslosen Aufstand im Ghetto von 1943 erinnern: Osterglocken waren die Lieblingsblumen des letzten überlebenden Kommandanten des Aufstandes, Marek Edelman. Er hat diese bis zu seinem Tod vor acht Jahren immer am Ghetto-Denkmal niedergelegt.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 18. April 2017 | 21:15 Uhr

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