Tschechien Retro-Kirmes mit uralter Tradition – das Prager Matthiasfest
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04. April 2023, 21:08 Uhr
Wien hat seinen Prater, Paris hat Disneyland – und in Prag findet jedes Jahr das Matthiasfest statt. Aber im Gegensatz zu anderen Städten dauert es nur ein paar Wochen im Frühling, wenn es noch recht kalt ist. Dennoch ziehen die lauten und farbenfrohen Fahrgeschäfte und andere Attraktionen jedes Jahr Zehntausende von Besuchern jeden Alters an.
Václav, etwa 30 Jahre alt, ist mit seiner Schwester und ihrem Sohn aufs Festgelände gekommen. "Normalerweise kommen wir ein- oder zweimal im Jahr her. Ich persönlich komme schon seit meiner Kindheit. Und auch meine Eltern haben das Matthiasfest besucht, als sie klein waren", sagt der junge Mann an einer der vielen Autoscooter-Anlagen.
Das Volksfest mit seinen Karussells, Erfrischungsständen und anderen Attraktionen findet seit 60 Jahren auf dem Prager Messegelände in der Nähe des großen Stromovka-Parks statt. "Es hat sich nicht viel verändert. Nur die Musik ist moderner geworden", sagt Václav. Die Autorin dieses Textes hat eine ähnliche Erfahrung gemacht: In den 1990er-Jahren besuchte sie das Fest an sonnigen Wochenendtagen mit ihrem Vater, den schon dessen Vater in den 1950er-Jahren dorthin mitgenommen hatte. In der sozialistischen Tschechoslowakei hieß die Veranstaltung, die ihren Ursprung im christlichen Fest des Hl. Matthias hat, allerdings "Nationale Arbeiterkirmes" – christliche Anklänge waren unerwünscht.
Seit Jahrzehnten in der Hand einer Familie
Das beliebte Volksfest mit starker Retro-Ausstrahlung wird seit 60 Jahren von der Prager Familie Kočka organisiert. Das Familienoberhaupt, der 81-jährige Václav Kočka sen., hat seine erste Berufserfahrungen mit der Organisation von Zirkus- und Gesangs-Auftritten im ehemaligen Ostblock gemacht – darunter auch bei Tourneen des legendären Karel Gott.
Nach der Samtenen Revolution 1989 berichteten Medien über den Verdacht, dass die Familie mit der russischen Mafia zusammenarbeite und später in den Mord an dem umstrittenen tschechischen Immobilienunternehmer František Mrázek verwickelt sei. Einer der Söhne von Václav Kočka sen. wurde 2008 ermordet. Der Mörder ist bis heute nicht ermittelt worden, und die Familie bestreitet jegliche Verbindung zu schmutzigen Geschäften.
Schausteller aus ganz Europa dabei
Gleichzeitig ist die Familie sehr stolz auf das Matthiasfest. Schon vor 1989 konnte Václav Kočka sen. Fahrgeschäfte westlicher Herkunft nach Prag holen, zum Beispiel aus Italien. Dieses Jahr bietet das Fest insgesamt 100 Attraktionen, von denen etwa 20 aus dem Ausland stammen. Neben Deutschland kommen die Karussells traditionell auch aus den Niederlanden, der Slowakei und Polen.
"Die Jugendlichen kommen vor allem nach hinten zu den Holländern", sagt der Betreiber eines der kleineren Fahrgeschäfte, der namentlich nicht genannt werden möchte, und zeigt auf den hinteren Teil des weitläufigen Komplexes. Er meint damit die größten und buntesten Attraktionen, die es beim Matthiasfest gibt – und die für reichlich Adrenalin beim Publikum sorgen. Dazu gehören ein 80 Meter hohes Kettenkarussell oder ein riesiges Pendel namens "Airborne", an dessen Ende Menschen sitzend hoch in die Luft geschleudert werden.
"Jede Attraktion ist anders, das ist cool. Und vor allem am Abend hat es eine tolle Atmosphäre, man genießt richtig die Lichter und die Musik", sagt Natálie Musilová, 17 Jahre alt. Ihre Freundin Jana Kleníková fügt hinzu: "Wenn es klappt, komme ich gerne mehr als einmal pro Saison, immer mit meinen Freundinnen. Alleine hätte ich Angst."
Inflation und Wetter trüben die Stimmung
Eine Fahrt kostet hier meist 150 Kronen (umgerechnet etwa 6,40 Euro). Das teuerste "Airborne" kostet 200 Kronen pro Fahrt (rund 8,50 Euro). Tschechische Attraktionen für kleinere Kinder sind etwas billiger. Die meisten Betreiber mussten die Preise im Vergleich zum letzten Jahr erhöhen, vor allem wegen der gestiegenen Energiekosten. Der Unterschied beträgt etwa 10 bis 50 Kronen pro Attraktion.
Der traditionelle Termin im Februar und März ist für das Matthiasfest Segen und Fluch zugleich. In diesem Jahr schrecken niedrige Temperaturen von nur einigen Grad Celsius über Null viele potentielle Besucher ab. Die Betreiber klagen über eine nicht allzu gute Saison. "Es gab ein paar schöne sonnige Wochenenden, sonst war es dieses Jahr miserabel", sagt einer.
Nach Angaben der Organisatorin Eva Kočková kamen an den Wochenenden bisher rund 40.000 Besucher, etwa die Hälfte der Zahl des Vorjahres. Einen Überblick über die Besucherzahlen unter der Woche haben die Veranstalter nicht – dann ist der Eintritt zum Messegelände frei und wird von niemandem kontrolliert. An den Wochenenden ist an den Eingängen zum Festgelände ein Eintrittsgeld von umgerechnet 1,30 Euro fällig, Kinder bis 120 cm Körpergröße ausgenommen.
Kirmes mit jahrhundertelanger Geschichte
Der Grund, warum das Prager Matthiasfest schon im Februar beginnt und daher auch die erste Frühjahrskirmes in Europa ist, ist historischer Natur: Im 16. Jahrhundert wurde das christliche Fest des Heiligen Matthias am 24. Februar gefeiert, obwohl es heute erst im Mai stattfindet. "Natürlich wäre es schön, wenn das Volksfest länger wäre oder in den Sommermonaten stattfinden würde, aber es hat eine 428 Jahre alte Tradition und Geschichte, und wir werden sie nicht neu erfinden", so Kočková.
Für ihre Familie sei die Organisation des Volksfests "eine Herzensangelegenheit" – auch wenn es heute nicht mehr wie in den 1990er-Jahren Hunderttausende von Menschen anziehe. "Damals gab es noch nicht so viele Unterhaltungsmöglichkeiten wie heute. Einkaufszentren, Wasserparks, Kinos, Spielzimmer für Kinder usw.", sagt Kočková.
In einem Punkt sind sich die Besucher aller Altersgruppen jedoch einig: Das Prager Matthiasfest ist eine Gelegenheit, die beliebten Langos zu genießen. "Das ist ein echter Klassiker", sagt Václav. Die ursprünglich ungarische Spezialität wird hier mit Käse und Ketchup verkauft – einst überall an tschechischen Imbissständen verkauft, ist es heute eher eine Seltenheit. Aber vor allem auf dem Matthiasfest ist er zuverlässig erhältlich. "Langos esse ich hier immer gerne", sagt Natálie Musilová. Doch auch der Langos ist dieses Jahr teurer geworden: Er kostet etwa vier bis fünf Euro.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 29. März 2023 | 19:30 Uhr