Wirtschaft Russland: Die Armut nimmt zu

01. Juli 2021, 15:46 Uhr

Die Landwirtschaft gilt als eine der Erfolgsbranchen Russlands der letzten Jahre. Trotzdem müssen Millionen Russen beim Essen sparen, während die Preise steigen. Nun hat Putin eingeräumt, dass zu wenig Obst und Gemüse produziert werden. Auch die Gegenmaßnahmen der Regierung würden nur partiell greifen, gab der Kremlchef jetzt zu.

Porträt Maxim Kireev
Maxim Kireev Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Russlands Präsident Wladimir Putin gibt in der Öffentlichkeit gerne den großen Kümmerer, dem die Nöte der Bevölkerung am Herzen liegen. Auf eine der größten Sorgen der Russinnen und Russen hat er derzeit keine Antwort: Die stark steigenden Lebensmittelpreise. In seiner alljährlichen Fernsehfragestunde "der direkte Draht" am 30. Juni sagte er, dass die russische Landwirtschaft Obst und Gemüse nicht "in ausreichender Menge" produziert. Er hoffe, dass dank der "neuen Ernte die Preise für Obst und Gemüse in Russland sinken werden". Doch derzeit sind die Preise hoch.

Wenn die Russin Alexandra Sinjak an ihren letzten Besuch bei einem Großhändler denkt, dann kommt ihr die Beschreibung "mittelschwerer Schock" in den Sinn. Das Problem: Seit Monaten plagen Russland steigende Lebensmittelpreise. Ein Trend, der sich in den letzten Wochen noch ein Mal verstärkt hat. Dabei geht es Sinjak nicht um ihr Familienbudget. Seit einigen Jahren betreibt sie in Russland ein wohltätiges Projekt namens Dobrodomik, eine Art Kantinen-Kette wo Rentner und Bedürftige kostenlos speisen können. Hauptsächlich wird das Projekt durch Privatspenden finanziert. "Aber zum Teil kaufen wir die Lebensmittel für unsere Küche ein, vieles ist spürbar teurer geworden" sagt die Russin. Gleichzeitig sei die Anzahl der Anfragen von hilfsbedürftigen Rentnern, die Lebensmittel benötigen, deutlich gestiegen. Insbesondere in den letzten beiden Monaten. "Schon früher hatten unsere Alten kaum Geld für ein würdiges Leben. Mit den jetzigen Teuerungen ist es vielen fast unmöglich über den Monat zu kommen" klagt die Russin.

Mit ihrem Projekt, das mittlerweile in 15 Städten des Landes aktiv ist, kann Alexandra Sinjak Zehntausenden mit kostenlosem Essen oder Lebensmittel-Paketen helfen. Doch allein die offizielle Statistik der russischen Behörden zeigt, dass die Lage auch für Millionen andere Russen mit geringem Einkommen sich spürbar verschlechtert hat. Innerhalb eines Jahres sind die Lebensmittelpreise in Russland um acht Prozent gestiegen. In der Euro-Zone lag die Teuerungsrate für Lebensmittel hingegen bei nur 1,2 Prozent. Das auf Einzelhandel spezialisierte Beratungsunternehmen Romir hat gar eine Inflation im Lebensmittelbereich von elf Prozent gemessen.

Putin zeigt sich empört

Hinter diesen trockenen Zahlen stecken handfeste Preissteigerungen im Supermarkt-Regal. Nudeln, Brot, Speiseöl und Hähnchenfleisch, das zuletzt von immer mehr Russen anderen Fleischsorten gegenüber bevorzugt wird, haben in den vergangenen Wochen und Monaten kräftig zugelegt. Zucker ist im vergangenen Jahr gar um 42 Prozent teurer geworden. Und das obwohl die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung nach Angaben der staatlichen Akademie für Volkswirtschaft und Verwaltung bereits mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen. Bereits im Dezember hatte sich Wladimir Putin persönlich des Problems angenommen. "Wie kann es sein, dass wir eine Rekordernte haben, und die Nudeln gleichzeitig teurer werden. Wie kann es sein, dass Zucker um 75 Prozent teurer wird?", empörte sich der Staatschef während seiner jährlichen Pressekonferenz noch im Dezember.

Tatsächlich wirkt die Situation auf den ersten Blick paradox. Denn in der Tat war die Landwirtschaft zuletzt trotz allgemeiner Wirtschaftskrise einer der Wachstumsmotoren. Im vergangenen Jahr legte sie als einzige Branche zu und verzeichnete ein Wachstum von zwei Prozent. Die Lebensmittelindustrie legte gar um vier Prozent zu. Stolz verweist Wladimir Putin darauf, dass Russland sich zum Exportweltmeister bei Getreide gemausert hat. Tatsächlich hat Russland 2020 das erste Mal seit Jahrzehnten etwa genauso viel Lebensmittel und Agrargüter exportiert wie importiert. Insgesamt stieg der Wert der Ausfuhren auf 25 Milliarden Euro.

Schwacher Rubel wird zum Problem

Doch die Erfolgsgeschichte hat auch eine Kehrseite. Russische Agrargüter wie Weizen, Pflanzenöl, Fisch und zuletzt auch zunehmend Schweine- und Geflügelfleisch sind international begehrt. Während der Pandemie sind die Weltmarktpreise in die Höhe geschnellt. Auf der anderen Seite wurde der russische Rubel wegen der Krise auf den Energiemärkten 2020 stark abgewertet. Im vergangen Jahr verlor die Landeswährung 25 Prozent an Wert gegenüber dem Euro. Für die Händler lohnt sich der Verkauf ins Ausland für harte Währung oft mehr als im Inland. Das lässt die Preise im Inland steigen. Zugleich hat Russland in den vergangenen Jahren viel Geld in neue Infrastruktur, wie Getreideterminals und Silos investiert, was den aktuellen Exporterfolg überhaupt erst möglich macht.

Ein-Rubel-Münze vor russischer Fahne in der Zange
Der Rubel wurde wegen der Krise auf den Energiemärkten 2020 stark abgewertet Bildrechte: imago/Christian Ohde

Nach Putins Einwurf im Dezember hatte die Regierung den steigenden Preisen eiligst den Kampf angesagt. Noch vor Neujahr hatten sich Supermärkte nach Beratungen mit Regierungsbeamten dazu verpflichtet, vorübergehend Höchstpreise auf Zucker und Pflanzenöl einzuführen. Gleichzeitig belegte die Regierung den Export von Getreide mit empfindlichen Ausfuhrzöllen von 50 Euro pro Tonne - bei einem Preis von aktuell 220 Euro je Tonne Weizen auf dem Weltmarkt. Vor wenigen Tagen kamen die Geflügelhersteller hinzu, die sich verpflichtet hatten, ihre Preise vorerst nicht weiter anzuheben.

Direkte Hilfen geplant

Doch für Experten sind die Effekte solcher Maßnahmen zweifelhaft. "Das Problem ist der schwache Rubel und die stagnierenden Realeinkommen", sagt Andrej Sizow, Chef der Moskauer Agrarberatung Sovecon. Einen Grund den Export von Getreide zu begrenzen gebe es seiner Meinung nach nicht. "Von einem Defizit an wichtigen Agrargütern sind wir seit entfernt, im Gegenteil könnten die Preisabsprachen und Exportschranken dazu führen, dass die Produktion zurückgeht" kritisiert der Experte. "Es wäre besser, wenn wir den Bedürftigen helfen, anstatt die Hersteller zu drangsalieren".

Dieses Problem hat auch der Kreml erkannt, nachdem die Preisobergrenzen und Exportzölle keinen kurzfristigen Erfolg im Kampf gegen die Inflation hatten. Selbst Putin gab gestern zu, dass staatlichen Regulierungen zwar einen Effekt erzielt hätten - "aber nicht für alle Güter".

Vor wenigen Wochen hatten einige Vertreter der loyalen Opposition in der Duma die Einführung von Lebensmittel-Marken für Bedürftige angeregt. Ein Schritt vor dem Wladimir Putin bisher immer zurückschreckte. Erinnert dies doch an die Mangeljahre Anfang der Ende der 1980er und Anfang der 1990er, als die zerbröckelnde Sowjetwirtschaft die Nachfrage nach einfachsten Produkten nicht mehr decken konnte. Doch der Ernst der Lage sorgt offenbar für ein Umdenken. "Diese Idee wird bereits auf Regierungsebene diskutiert und sie bringt Vorteile mit sich", erklärte der Präsident damals. Bei seiner Fragestunde hingegen erwähnte er die Idee nicht noch einmal.

Für die Petersburgerin Alexandra Sinjak, die sich der Hilfe für hungrige Rentner verschrieben hat, ist diese Idee nur zu begrüßen. "Selbstverständlich muss etwas getan werden. Es gibt Stiftungen und private Hilfsorganisationen. Aber wir haben Millionen Menschen jenseits der Armutsgrenze und mit solchen Lebensmittelmarken könnten wir ihnen helfen", sagt die Russin. "Im 21. Jahrhundert darf es nicht sein, dass ein Mensch Hunger leidet".

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 30. Juni 2021 | 09:15 Uhr

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