Tierisches Polen Mehr Störche als Einwohner – das "Storchendorf" Żywkowo in Polen
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26. Juni 2021, 05:00 Uhr
Żywkowo ist in ganz Polen als "Storchendorf" bekannt. In der kleinen Siedlung an der russischen Grenze leben nur 19 Menschen, aber in jedem Jahr zwischen Ostern und August fast 200 Störche. Ihre Nester befinden sich auf Scheunen- und Häuserdächern, auf Strom- und Telefonmasten. Und die Einwohner von Żywkowo tun beinahe alles, damit es ihren Gästen an nichts fehlt.
Die schmale Straße führt über weite Felder, auf denen Mähdrescher ihre Runden drehen. Fährt man an der letzten Abzweigung geradeaus, kommt man nach Russland und in die Enklave Kaliningrad. Wäre die EU eine Scheibe, hier wäre sie zu Ende. Links dagegen geht es in das letzte Dorf in Polen, Żywkowo oder Schewecken, wie es bis 1945 hieß. Die kleine Siedlung ist mit den Backsteinhäusern und hölzernen Gehöften typisch für Masuren, den waldreichen Landstrich, der einst zu Ostpreußen gehörte. Und mittendrin ungewöhnliche Dorfbewohner: auf zwei Beinen und sehr federreich. Störche.
Mehr Störche als Einwohner in Żywkowo
"Wir haben 43 Storchenpaare in diesem Jahr", zählt Adam Mądry stolz auf. "Auf 19 Menschen." Wenn sie nach der Brut Mitte August fortfliegen, würden es rund 200 Störche sein, glaubt der Leiter der örtlichen Vogelschutzwarte. Fast zehn Mal so viele Störche wie menschliche Einwohner – da muss die Minderheit der Mehrheit dienen. Die menschlichen den fedrigen Bewohnern in Żywkowo. Und so steigt der 34-Jährige in der Brutzeit der Störche zwischen Ostern und Ende August regelmäßig auf den Traktor, um die Wiesen vor dem Dorf zu mähen, damit die Störche einfacher Nahrung finden. Rund 50 Hektar Weidefläche, umgerechnet 70 Fußballfelder, gehören der polnischen Vogelschutzgesellschaft PTOP.
Ideale Lebensbedingungen für die Störche
"Der Storch will Nahrung und diese gibt es hier im Überfluss", erklärt Adam Mądry. "Rund um Żywkowo gibt es noch viele Weiden und die Landschaft ist vielfältig: hier ein Sumpf, dort ein Bach und eine Wiese." Anderswo in Polen seien Bauern dazu übergegangen, Getreide anzubauen, statt Vieh zu halten, so Mądry. Dadurch gehe Weidefläche verloren, jenes Mäuse- und Nager-Nahrungsreservoir der Störche. "Unsere Störche können jederzeit auf die Unterstützung von uns Bewohnern zählen", beteuert Mądry.
Einige Bauern betreiben Agrotourismus
Das Zusammenleben der Störche mit den Menschen in Żywkowo ist ein Geben und Nehmen. Längst betreiben einige Bauern Agrotourismus, wie Ferien auf dem Bauernhof auf Polnisch heißt, und beherbergen Ausflügler und Urlauber. Denn mit den Störchen kommen in der warmen Jahreszeit auch Touristen. Als "Storchendorf" ist Żywkowo mittlerweile in ganz Polen bekannt. Und auch die Vogelschutzwarte hat bereits reagiert und ließ einen zehn Meter hohen Aussichtsturm errichten. Besucher können nun den Störchen "auf Augenhöhe" begegnen und direkt in die Horste hineinschauen.
Die Störche begrüßen den Frühling in Żywkowo
"Für mich sind die Störche Alltag", sagt Irena Kur und lacht. Sie wohnt in einem Bauernhaus neben dem Aussichtsturm und beteuert, dass die Störche sie dennoch immer wieder faszinieren. "Im Winter, bevor die Störche kommen, ist es im Dorf so ruhig. Erst sie begrüßen mit ihrer Ankunft den Frühling." Dann wird das Klackern vom Scheunendach aber mitunter auch richtig laut. Denn gleich vier Horste auf Irenas Grundstück werden in diesem Jahr von den Störchen bewohnt, auf dem Hof der Vogelschutzwarte sind es gar ein Dutzend.
Störche waren schon immer da
Die Störche waren eigentlich schon immer in Żywkowo, erinnert sich Irenas Mutter Maria. Sie kam mit einem Transport aus der Nähe der heutigen polnisch-ukrainischen Grenze 1947 in dem einst von Deutschen besiedelten Ort an. "Akcja Wisła" nannte sich die von der kommunistischen Führung angeordnete "Umsiedlung" ukrainischstämmiger Polen in nun an Polen zugefallene Gebiete. Die deutschen Bewohner hatten 1945 im Zuge von Flucht und Vertreibung Ostpreußen verlassen. "Die Störche aber sind geblieben und sie waren auch schon da, als wir ankamen", sagt die 85-jährige Maria.
Die Störche sind in Żywkowo zu Hause
"Jemand hat einmal gesagt, wir haben nur zwei Jahreszeiten hier: eine Storchenzeit und eine Nicht-Storchenzeit", sagt Irena. "Wenn die Tiere im Spätsommer fort sind, wird es nicht nur ruhig im Dorf, dann sind wir auch traurig." Die Winter im nördlichen Polen sind lang und kalt, die Leute in Żywkowo haben daher durchaus Verständnis dafür, dass die großen Vögel ins Warme zum Überwintern fliegen. "Einige meinen ja, sie fliegen in ihre afrikanische Heimat", sagt Irena. "Ich meine aber, sie sind bei uns zu Hause. Denn dort, wo man Kinder bekommt, ist man daheim." Und das sei nun einmal das "Storchendorf" Żywkowo.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 26. Juni 2021 | 07:20 Uhr