80 Jahre nach Befreiung von Mittelbau-Dora KZ-Überlebender Albrecht Weinberg: "Hätten nie gedacht, da lebend rauszukommen"
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10. April 2025, 10:17 Uhr
Wie war das Leben als jüdisches Kind im Nationalsozialismus? Albrecht Weinberg ist der letzte Überlebende des KZ Mittelbau-Dora. Am 8. April sprach er auf einer Begegnungsveranstaltung im Ratssaal der Bibliothek in Nordhausen über sein Leben. Viele Menschen kamen und applaudierten dem 100-jährigen Zeitzeugen.
Der Ratssaal der Bibliothek in Nordhausen ist komplett gefüllt. Ein paar Leute dürfen noch rein und sich auf die Fensterbänke setzen. 500 Menschen warten geduldig auf Albrecht Weinberg, den 100-jährigen letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora.
Als er den Raum betritt, stehen die Zuhörerinnen und Zuhörer auf und applaudieren. An den Sitzreihen der Gäste vorbei schiebt er gemächlich seine Gehhilfe bis zur Bühne. Auf die Bühne hilft ihm seine Pflegerin und Seelenverwandte Gerda Dänekas.
Sie wird ihm während der Gesprächsrunde das Mikrofon halten. Sie hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihm zu helfen. Während der Corona-Pandemie zogen die beiden sogar zusammen. Weinberg witzelt: "Wir sind die älteste WG Deutschlands". Die beiden lernten sich kennen, als Dänekas' Mann im selben Seniorenheim war wie Weinberg. Die beiden mochten sich sofort. Als ihr Mann starb, "hat sie mich adoptiert", sagt Weinberg später. Im Verlauf des Abends zeigt Weinberg immer wieder seinen ausgelassenen, trockenen Humor.
Kindheitserinnerungen: "Hatten plötzlich keinen Vornamen mehr"
Zwei Mitarbeiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora moderieren das Gespräch: "Welche Erinnerungen hast du an deine Kindheit?", fragt eine Moderatorin. "Wir hatten dann plötzlich keinen Vornamen mehr. Ich war nur noch der Jüd (Anm. d. R.: ostfriesisch für Jude)". Sein bester Freund Hermann sagte eines Tages: "Ich darf nicht mehr mit dir spielen, weil du Jude bist." Daraufhin sei Weinberg weinend nach Hause gerannt und habe seine Mutter gefragt, was das zu bedeuten habe.
Die deutschen Jungs haben uns verachtet und mit Steinen beworfen.
Sie meinte, da gebe es jetzt mit den Nationalsozialisten eine neue Regierung in Deutschland, aber das würde sich schon wieder ändern. Es wurde aber immer schlimmer, sagt Weinberg. "Die deutschen Jungs haben uns verachtet und mit Steinen beworfen."
Die Arisierungsgesetze ordneten an, dass Juden nur noch zu bestimmten Zeiten einkaufen durften. Oft kam seine Mutter vom Einkaufen mit leeren Taschen nach Hause. Es hieß, es hätte nichts mehr gegeben. Zum ersten Mal erlebte Weinberg eine Stigmatisierung aufgrund seiner Religion. "Die Jugendlichen können sich heute nicht mehr vorstellen, was ihre Großeltern mal durchgemacht haben."
Deshalb spricht er zwei Mal die Woche vor Schülern in seiner ehemaligen jüdischen Schule in Leer. Mit Blick auf die aktuelle Weltlage sagt er, seit dem Zweiten Weltkrieg habe man gesagt: "Nie wieder Krieg!". Und seit dem Zweiten Weltkrieg sei nur noch Krieg auf der Welt. "Was ist los mit uns Menschen?" Religion habe viel damit zu tun, ist sich Weinberg sicher.
Was ist los mit uns Menschen?
Weinberg überlebt drei KZ und Todesmärsche - und sieht Bruder im KZ wieder
Weinberg wurde im April 1943 ins KZ deportiert. Er überlebte Auschwitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen sowie mehrere Todesmärsche. Eine Frau aus dem Publikum fragt ihn, woher er die Kraft nahm, das alles durchzustehen. Weinberg antwortet, dass es ein großes Glück gewesen sei, in Auschwitz seinen Bruder Dieter beim Appell wiedergetroffen zu haben. Die beiden hätten sich gegenseitig physisch und psychisch gestützt. "Es war unglaublich, was wir aushalten mussten", erinnert sich der Hundertjährige.
Während des zweistündigen Gesprächs erzählt er immer wieder Erinnerungen aus dem Konzentrationslager: "Einer, der mit uns gearbeitet hat, ist verrückt geworden. Der hat vor Hunger einem Toten in den Oberschenkel gebissen. Aber das hat uns gar nicht mehr gestört. Wir hatten ja rund um die Uhr mit Toten zu tun."
Einer ist verrückt geworden. Der hat vor Hunger einem Toten in den Oberschenkel gebissen. Aber das hat uns gar nicht mehr gestört.
Neues Leben in New York mit eigenem Geschäft
Die Befreiung von Mittelbau-Dora erlebt Weinberg nicht. Vor der Befreiung des KZ durch die US-Amerikaner wird er mit vielen anderen Häftlingen mit einem Zug nach Bergen-Belsen gebracht. Dort erfährt er von den Briten, dass das KZ befreit wurde. "Ich war nicht lebend und nicht tot. Ich wusste nicht, was passiert", erinnert er sich.
Nach Ende des Krieges sucht Weinberg nach Verwandten. Er findet nur noch seine Schwester und seinen Bruder. 1947 emigriert er mit seiner Schwester nach New York. Er fängt ein neues Leben an. Deutschland sei ein Schutthaufen gewesen. "Wir wollten nichts mehr von Deutschland wissen", sagt er. Immer wieder fragt er sich, wie er mit dem ganzen Leid, das er erfahren hat, leben soll. Die Amerikaner sagten ihm: "You must forget". Am 2. Januar 1954 eröffnet er ein Lebensmittelgeschäft.
Weinberg gibt Bundesverdienstkreuz wegen Merz zurück
60 Jahre später zieht Weinberg zurück nach Deutschland in seine Geburtsstadt Leer. Er bekommt das Bundesverdienstkreuz. Doch als Friedrich Merz in der Migrationsdebatte im Bundestag mit der AfD abstimmte, gab er es zurück. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe ihn beschworen, es nicht zurückzugeben. Es gebe ja auch gute Menschen in Deutschland, sagt Weinberg. Aber "als Merz der AfD die Hand gereicht hat, hab ich gedacht, ich muss meine Koffer packen".
Am Ende gibt es Standing Ovations. Die Zuhörer stehen Schlange, um sich Weinbergs Biografie "Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm" signieren zu lassen.
Auf die Frage, woher er die Kraft nehme, um die vielen Vorträge zu bewältigen, erklärt Weinberg, er sei ja jetzt in guten Händen und lerne immer wieder wunderbare Menschen kennen. Es sei ja nicht dasselbe, wie die Geschichte in einem Buch nachzulesen. Man müsse es von den Menschen hören, die es erlebt haben. Obwohl er im Dritten Reich als "dreckiger Jude" bezeichnet worden sei, sei er doch ein ganz normaler Mensch mit zwei Händen und zwei Füßen.
MDR (mru)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | THÜRINGEN JOURNAL | 07. April 2025 | 19:00 Uhr
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