Lange Wartelisten Sprechen ist (nicht) kinderleicht: Immer mehr Sprachdefizite bei Kindern

18. September 2023, 13:53 Uhr

Laut einer Studie der Krankenkasse Barmer sind immer mehr Kinder in Thüringen von Störungen der Sprache und des Sprechens betroffen. Schon seit Jahren steigen die Zahlen kontinuierlich an. Woran liegt das?

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Für die neunjährige Laura ist es keine unbekannte Situation mehr. Bei einem Hörtraining soll sie spielerisch den Unterschied zwischen einem "s" und einem "sch" erkennen. Mittlerweile ist sie darin ein echter Profi.

Laura hat einen sogenannten Sigmatismus, auch bekannt als Lispeln. Seit der Vorschule ist sie bereits in logopädischer Behandlung. Weil sie schon früh mit der Therapie begonnen hat, ist sie jetzt fast störungsfrei, erklärt Lauras Logopädin Ines Heinemann.

Späte Behandlung macht Folgestörungen wahrscheinlich

Doch je später die Störung erkannt und behandelt wird, desto wahrscheinlich seien Folgestörungen und Verhaltensauffälligkeiten. So neigen manche Kinder zu Aggressionen, weil sie sich häufig missverstanden fühlen und mit ihren Klassenkameraden nicht mithalten können. "In der Schule ist da zum Beispiel einfach mal eine Negativkarriere vorprogrammiert", so die Logopädin.

In der Schule ist da zum Beispiel einfach mal eine Negativkarriere vorprogrammiert.

Ines Heinemann Logopädin

Vor 20 Jahren hat Ines Heinemann angefangen, in Weimar als Logopädin zu arbeiten. Damals gab es dort drei sprachtherapeutische Praxen. Mittlerweile sind es doppelt so viele. Trotzdem gebe es fast überall teils lange Wartelisten, erzählt sie. Einer Studie der Krankenkasse Barmer zufolge, wurden 2021 in Thüringen bei 16.800 Jungen und Mädchen Defizite beim Sprechen und der Sprache diagnostiziert - das sind etwa doppelt so viele, wie noch 2006.

Unterschiedliche Entwicklungen

Sprachentwicklungsstörungen treten in den unterschiedlichsten Formen auf. Bei manchen Kindern, so wie bei Laura, betreffen sie nur eine bestimmte Lautklasse. Andere Kinder bauen nur sehr langsam einen Wortschatz auf und können sich nicht richtig ausdrücken. Einige haben auch Probleme, sich die Bedeutung von Wörtern zu merken.

In allen Fällen arbeitet das Sprachzentrum im Gehirn nicht richtig, erklärt Ines Heinemann. Warum, das lasse sich manchmal gar nicht so eindeutig sagen. Einen großen Einfluss spiele aber die Umgebung, in der das Kind aufwächst.

Zusammenhang mit Medienkonsum

Dass die Zahl der betroffenen Kindern immer weiter steigt, bringt die Krankenkasse Barmer auch mit dem Medienkonsum in Zusammenhang. "Wenn ich mal ein Video schaue, wenn ich mal Spiele am Handy mache, da ist mit Sicherheit nichts dagegen einzuwenden" so Ursula Marschall, leitende Ärztin der Barmer.

Doch wie bei eigentlich allem gelte auch hier: Die Dosis macht das Gift. Denn Sprache entwickelt sich vor allem durch Interaktion und Zuwendung - oder einfach gesagt, durch das Sprechen miteinander. Medienkonsum hingegen läuft immer nur einseitig ab.

Doch mit dem Handy vor der Nase ist diese Zeit vertan.

Ines Heimann Logopädin

Deswegen ist häufiges Spielespielen oder Videosschauen nicht nur bei den Kindern problematisch. "Die Mutter, die ihr Kind im Wagen durch den Park schiebt, hat das Handy vor der Nase oder gar Kopfhörer auf. Das sehe ich leider ganz oft", berichtet Logopädin Ines Heinemann.

"In dieser Zeit könne die Mutter ihrem Kind eigentlich die Welt zeigen, mit ihm sprechen oder einfach nur Grimassen ziehen", sagt sie. "Auch das ist Interaktion. Und davon profitiert das Kind enorm. Doch mit dem Handy vor der Nase ist diese Zeit vertan".

Folgen der Pandemie erst in Jahren absehbar

Und dann ist da auch noch die Pandemie. "Das war ganz bestimmt ein Treiber in eine negative Richtung", ist sich die Logopädin sicher. Durch Kindergarten- und Schulschließungen habe es den Kindern massiv an Gesprächspartnern gemangelt.

Aber auch die Sache mit den Masken könnte Schäden verursacht haben, vermutet sie. Kinder lernen Sprechen auch mit den Augen. Zum Beispiel indem sie die Mimik und die Mundbewegungen der Eltern beim Sprechen beobachten und diese dann imitieren. "Und dieser Wahrnehmungskanal, der war eben für eine lange Zeit immer unter der Maske versteckt".

Vor allem bei Kindern, die schon zuvor sprachauffällig waren, könnte sich Corona negativ ausgewirkt haben. "Wie groß der Einfluss war, das wird man erst in den nächsten Monaten und Jahren abschließend beurteilen können", so Ursula Marschall von der Barmer.

Was können Eltern tun?

"Sprechen lernt man durch Sprechen." Deswegen rät Ines Heinemann den Eltern, mit ihren Kindern sprachlich so viel Zeit zu verbringen, wie möglich. Dass die Sprachentwicklung nicht einfach von alleine passiert, vergessen viele. Man müsse dem Kind immer wieder Anreize schaffen, sich die Welt sprachlich zu erschließen.

"Ein Bilderbuch, Lieder und Fingerverse, später auch kleine Gedichte eignen sich hervorragend, um sprachliche Fähigkeiten aufzubauen", sagt Ursula Marschall. Trotzdem sollten sich Eltern nicht zu viel Druck machen. Manche Kinder würden erst später zu sprechen anfangen als andere. Nicht immer muss es sich um eine Sprachentwicklungsstörung handeln.

Und wenn doch, sollte man gar nicht erst anfangen, nach einem Schuldigen zu suchen, sagt Ines Heinemann. Demnach habe sie auch viele Kinder in Behandlung, bei denen die Eltern eigentlich "alles richtig" gemacht hätten.

Laura hat es fast geschafft

Das gilt auch für die neunjährige Laura. Sie hat es fast geschafft. Nur noch ein paar Logopädie-Stunden muss sie besuchen, bis Ines Heinemann sie in die Welt entlässt. Zwar wird Laura sich nicht nach der "Logo" zurücksehnen.

Trotzdem hätten ihr die Jahre mit Ines Heinemann immer viel Spaß gemacht, sagt sie. Und genau das ist es, worauf es beim Sprechen am meisten ankommt, sagt die Logopädin: Dass man dem Kind immer Freude am Sprechen vermittelt.

MDR (dst)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 17. September 2023 | 18:00 Uhr

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