Analphabetin Renate mit einem Lehrbuch für Analphabeten in einem Schulungsraum des Vereins - Lesen und Schreiben e.V. - in Berlin-Neukölln.
Schätzungsweise 300.000 Menschen in Sachsen sind Analphabeten. Nicht alle werden durch Kursangebote erreicht. (Symbolbild) Bildrechte: imago/Manja Elsässer

Volkshochschule Chemnitz Lesen, Schreiben, Rechnen - Hilfe zur Selbsthilfe für Analphabeten

14. September 2023, 13:56 Uhr

Im Restaurant die Speisekarte lesen, ein Ticket am Automaten kaufen oder eine Postkarte schicken - die meisten Menschen erledigen das mit Leichtigkeit. Wer aber Probleme hat beim Lesen und Schreiben, steht hier vor enormen Herausforderungen. Rund 300.000 Menschen in Sachsen gelten als Analphabeten. Ein Tabu-Thema für Betroffene, das mit Scham behaftet ist. Die Volkshochschule Chemnitz will helfen - und bietet weit mehr als "nur" den Kampf gegen die Sprachdefizite.

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Ich bin in der Volkshochschule (VHS) Chemnitz verabredet. Während ich durch die leeren Gänge streife, sehe und höre ich durch halb geöffnete Türen in die Unterrichtsräume: Männer und Frauen sitzen dort, sprechen mir unbekannte Sprachen und mühen sich, die Hürden der deutschen Sprache zu meistern. Doch um Integrationskurse soll es heute nicht gehen, sondern um Alphabetisierungskurse für Muttersprachler. 

Ich treffe Kerstin Posvic, die seit 20 Jahren ein Mal pro Woche solche Alphabetisierungskurse gibt. "Mein Kurs heißt 'Lesen, Rechnen, Schreiben lernen für Behinderte'. Dabei geht es darum, ganz individuell auf die verschiedenen Bedürfnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einzugehen." Ein "Lernziel" gebe es bei diesem Kurs nicht. "Ich habe Kursteilnehmer, die schon seit zwölf Jahren zu uns kommen und jetzt bis zur Zahl 20 rechnen können."

Das sei ein Erfolg, der sich nicht in Unterrichtsstunden messen ließe. "Es geht um die individuelle Förderung und auch um Struktur im Alltag." Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer kämen hochmotiviert nach der Arbeit in Werkstätten zum Kurs. "Die Arbeitsmaterialien dafür habe ich mir selbst zusammengestellt." Das seien zum Beispiel Puzzle oder Bilder mit Entsprechungen wie "H und Hase".

Torsten: Lernen für den Alltag

Torsten ist heute extra für mich zur Volkshochschule gekommen. Er will mir erzählen, was ihm gefällt. Er kommt schon so lange zum Kurs, dass er gar nicht mehr weiß, wann er damit begonnen hat, Schreiben Lesen und Rechnen zu lernen. "Schreiben macht nicht so viel Spaß wie das Rechnen", bekennt er. "Aber wir haben mit Geld gerechnet, mit Scheinen." Er unterbricht seinen Satz und macht mit seinem Zeigefinger eine kreisende Bewegung auf dem Tisch. "Und mit Münzen", fällt ihm schnell ein. "Jetzt kann ich allein einkaufen gehen."

Außerdem treffe er im Kurs viele Bekannte. Das sei schön. Gefragt nach seinem schönsten Erlebnis in der Volkshochschule, sagt er sofort: "Wir waren am Abschlusstag zusammen Eis essen. Das war toll." Wobei er mit "Abschlusstag" nur den am Ende eines Schuljahres meint. Denn Torsten will unbedingt weitermachen, weiter Schreiben, Lesen und Rechnen lernen.

Unterrichtsmaterial von Betroffenen für Betroffene

Astrid Günther kommt mit mehreren Büchern, Broschüren und einem Karteikasten in den Raum. Sie ist Fachbereichsleiterin Mensch und Gesellschaft an der VHS Chemnitz und damit auch zuständig für die Alphabetisierungskurse. "Das ist ein wichtiges Anliegen für uns", sagt sie. "Allerdings", räumt sie ein, "erreichen wir die 'funktionalen Analphabeten', also diejenigen, die mit verschiedenen Mechanismen durch den Alltag kommen, sehr schlecht."

Dann zeigt sie mir die Bücher, die sie mitgebracht hat. "Das ist die andere Seite. Seit 2009 gibt es Workshops für Analphabeten, bei denen solche Materialien entstehen." Dabei seien bereits ein Film, mehrere Lesebücher mit kulturellen Hintergründen und eine sogenannte Berufsbox entstanden. "Die Box enthält Karteikarten mit einer Beschreibung der verschiedensten Berufe in einfacher Sprache", erzählt Astrid Günther.

"Da sie in einfacher Sprache verfasst sind, helfen sie anderen, die noch Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben", sagt Günther. "Das sind zum Beispiel auch Migranten, die mit der Sprache noch nicht so gut zurechtkommen."

Bibliothek mit eigenem Angebot in einfacher Sprache

In der Stadtbibliothek, die im gleichen Haus ihr Domizil hat, zeigt sie mir, dass es eine eigene Rubrik mit dem Titel "Leichter lernen" gibt. Hier finden sich die Broschüren, aber auch Romane und andere Bücher in einfacher Sprache, die man ausleihen kann.

Angebote gibt es also viele, um Sprachdefizite Erwachsener abzubauen, stelle ich fest. Astrid Günther hofft, dass mehr Betroffene die Angebote wahrnehmen. "Natürlich ist uns bewusst, dass gerade bei funktionalen Analphabeten die Scham oft sehr groß ist." Umso wichtiger sei, dass sie von den Angeboten der Volkshochschule erfahren und sich an die VHS wenden. "Nur dann können wir ein entsprechendes Angebot für sie aussuchen", sagt sie abschließend.

MDR (tfr)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 28. August 2023 | 19:00 Uhr

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