"Faust I" am DNT Weimar 8 min
"Faust" gespickt mit modernen Diskursen – mehr über die aktuelle Inszenierung im Audio: Bildrechte: Candy Welz
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Zum 18. Mal wird in Weimar Goethes "Faust" inszeniert. Am Deutschen Nationaltheater feiert am Samstag eine moderne Interpretation des Klassikers Premiere. Mehr von Theaterredakteur Stefan Petraschewsky:

MDR KULTUR - Das Radio Mo 09.12.2024 08:40Uhr 08:05 min

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Deutsches Nationaltheater Premiere in Weimar: Doppelter "Faust", nur halb gelungen

09. Dezember 2024, 09:40 Uhr

Nicht irgendwo, sondern in Weimar feierte am Samstagabend Goethes "Faust. Der Tragödie erster Teil" Premiere. Wie aktuell ist das Nationaldrama noch, in dem der hadernde Forscher einen Pakt mit dem Teufel schließt? Das wollte Hausregisseur Jan Neumann in seiner Neuinszenierung am DNT ausloten. Faust kommt darin in junger und alter Gestalt auf die Bühne, Mephisto erscheint als männlich-weibliches Doppelwesen. Damit geht auch eine Ära am DNT zu Ende, kulturpessimistisch, findet unser Kritiker.

  • Nur halb gelungen findet unser Kritiker die "Faust I"-Premiere am Deutschen Nationaltheater.
  • Hausregisseur Jan Neumann schickt den alten Faust in Rente, als Kulturtourist taucht er in Weimar wieder auf.
  • Am Ende wird die Neuinszenierung zu plakativ, das Publikum applaudierte dennoch bewegt, denn damit geht die Ära von Hasko Weber als Intendant zu Ende.

Das Fazit vorneweg: In den eineinhalb Stunden vor der Pause, in denen es vor allem um den alten Faust geht, ist es ein sehenswerter, beeindruckender Abend. Getragen von Sebastian Kowski. Nach der Pause, wenn der junge Faust und Margarete ins Spiel kommen – Margarete, die auch gerne als Gretchen verniedlicht wird – ist es erst durchwachsen, dann konzeptionslos und beliebig; einmal auch peinlich: in der Walpurgisnacht, die als Animationsnummer für das Publikum inszeniert wird, doch kaum einer, eine will so richtig mitmachen.

Wie aktuell ist Goethe? 18 Mal Faust seit 1829

Es ist übrigens die 18. Inszenierung von "Faust. Der Tragödie erster Teil" in Weimar. Am Tag nach Goethes Geburtstag, am 29. August 1829, also noch zu seinen Lebzeiten, wurde das Stück in der Klassikerstadt erstmals aufgeführt. Die Premiere jetzt ist eine Art inoffizieller Auftakt für das neue Themenjahr der Stiftung Klassik, das fragt: "Wie aktuell ist Goethes 'Faust'?" Offiziell gestartet wird es mit einer großen Ausstellung zu "Faust" am 30. April 2025, also mit der Walpurgisnacht.

"Faust I" am DNT Weimar
Walpurgisnacht wird auch jetzt schon in der "Faust"-Neuinszenierung von Hausregisseur Jan Neumann am DNT Weimar gefeiert. Bildrechte: Candy Welz

Goethe und "Faust" in Weimar (Zum Ausklappen)

  • Goethe (1749-1832) lernte die Geschichte des Dr. Faustus wohl als Kind über ein Puppenspiel kennen.
  • Als er 1775 nach Weimar kam, hatte er bereits erste Entwürfe seiner Variante der Legende dabei.
  • Er arbeitete über viele Jahre an dem Stoff, den zweiten Teil stellte er erst kurz vor seinem Tod fertig.
  • "Faust"-Inszenierungen haben in Weimar Tradition.
  • Mehr als 20 Jahre lang leitete Goethe dort auch das Hoftheater, in dessen Tradition sich das DNT steht.

Jan Neumanns Inszenierung ist eine Auseinandersetzung mit dieser Frage nach der Aktualität. Von Beginn an. Sebastian Kowski tritt als alter Faust auf die Vorbühne, heutig gekleidet mit dunkelmausgrauer Hose und Hemd. Er spricht die "Zueignung" von den nahenden "schwankenden Gestalten" direkt ins Publikum; wird zum Dichter im "Vorspiel auf dem Theater", wo er bekanntermaßen für die ernste Kunst plädiert und gegen geistlose Unterhaltung wettert. Es folgt ein kurzer Einschub, der Prolog im Himmel. Gott und drei Engel ganz in Weiß, Mephisto als teuflisches Doppelwesen aus Mann und Frau ganz in Schwarz, wie einem Kupferstich Albrecht Dürers entsprungen. Danach dann erscheint Sebastian Kowski wieder als alter Faust. Diesmal allein in seiner Studierstube. Den berühmten Monolog: "Habe nun ach ...!" spricht er mit Wut – mit so viel Wut, dass er nach ein paar Zeilen erst mal Luft schnappen, Kraft sammeln muss.

Dr. Heinrich Faust in Rente und Kulturtourist in Weimar

Interessant ist das, was Kowski auf der Metaebene spielt. Da wird der alte Faust zu einem Dozenten für Germanistik, der in Rente geht. In seinem Büro in der Uni, in seiner "Studierstube", sind die Bücher schon verpackt. Nur das Neue Testament und das Buch von Nostradamus werden noch gebraucht. Zeitvertreib, bevor der Rektor die Abschiedsurkunde überreichen wird. Aber dann kommt Mephisto als quicklebendiger Pudel herein und schlägt ihm eine Reise durch die Welt vor. Und Kowski zieht sich die beige, neugekaufte Freizeitjacke über, bindet sich sehr akkurat einen grauen Schal, putzt die schwarzen Lederhalbschuhe noch einmal – dann geht die Reise los. Nach Weimar als Kulturtourist.

Aber über Leipzig, wo er in Auerbachs Keller partysüchtige Studenten erleben muss, die im Oktoberfest-Outfit Bier aus Messbechern trinken und Ballermann-Songs gröhlen. Faust, der Dozent im Unruhestand, oder auch Bildungsbürger alten Schlags, versucht, sich ganz unauffällig zwischen diese – sagen wir es heutig korrekt – "Studierenden" zu setzen, man merkt aber: Er fühlt sich unwohl; kann mit der ganzen Situation nichts anfangen. Irgendwann entdeckt er Gretchens Bild an einer Wand wie in einem Spiegel, träumt sich in die Vorstellung hinein, wie es wäre, noch einmal jung zu sein – wohl auch als junger Mensch anders zu sein als die unzivilisierte Horde, die er gerade erlebt.

"Faust I" am DNT Weimar
Jung wäre der alte Faust auch gern wieder, aber zivilisiert. Bildrechte: Candy Welz

Dann taucht Gretchen auf. Sie betet allein vor einem drei Meter hohen Kreuz, das aus den Platinen von Smartphones zusammengesetzt ist, hat ein Kopftuch um, und sieht damit aus wie eine Geflüchtete aus Nahost. Black. Pause. Gretchen, eine Muslima, als Cliffhanger?!

Die Welt als Drehbühne, darüber droht ein Trumm

Die Bühne von Matthias Werner kann man sich wie eine riesige Torte auf der Drehbühne vorstellen. Die Tortenstücke sind an der Randseite offen. Man kann also reingucken in die verschiedenen Handlungsorte. Eben auch die Kirche mit dem Kreuz. Wenn in den Tortenstücken gespielt wird, werden sie auf die Vorbühne gefahren. Und danach wieder zurück auf dieses Karussell eines Lebens. In der Mitte der Drehbühne steht ein alter, knorriger Olivenbaum als Achse. Wohl auch ein Lebensbaum, der sich an einen Felsen krallt. Über ihm, an einem Hanfseil, ein tonnenschwerer Feldstein. Und man denkt natürlich die ganze Zeit: Wann fällt der auf den Lebensbaum herunter und zerstört dieses Weltsymbol?

Blick auf eine Bühne: zwei Schauspieler über einem großen, roten Kreuz
Das Bühnenbild für "Faust I" in Weimar gestaltete Matthias Werner als Drehbühne, darüber schwebt bedrohlich ein Felsbrocken. Bildrechte: Deutsches Nationaltheater Weimar / Foto: Candy Welz

Es gibt auch zwei Tortenstücke, die die Wohnungen von Margarete und ihrer Nachbarin Marthe zeigen. Bei Marthe liegen ebenfalls große Feldsteine rum. Und man fragt sich: Wird sie für die Zerstörung der Welt verantwortlich sein? Die Wände ihrer Wohnung sind gepflastert mit Bildern, die immer einen Sonnenuntergang im Meer zeigen.

Das Thema Unkultur wird hier von den Studierenden auf sogenannte bildungsferne Schichten ausgeweitet. Das ganze ist mithin auch ein Drei-Generationen-Stück: Der alte Faust noch Bildungsbürger; bei der nächsten Generation, bei Marthe, reicht es nur noch zum Kitsch; und die Jungen sind gefangen im Glauben an (a)soziale Medien, ohne jede Empathie, wenn sie mit dem Handy Gretchens sterbenden Bruder filmen statt zu helfen. Sie sind auch ohne Geist, wenn sie ständig an irgendwelchen Sportgeräten ihren Körper optimieren, was schon zum Einlass auf der Bühne zu sehen war. Die Margarete von Tahera Hashemi, einer Schauspielerin, die in Afghanistan geboren ist, ist die einzige Ausnahme, mit ihrem Stolz, wie sie eine Geflüchtete spielt, die jetzt wohl als Pflegekraft arbeitet, aber gesellschaftlich ausgegrenzt bleibt.

Blick auf eine Bühne: zwei Frauen im blauen Scheinwerferlicht.
Margarethe (l.) wird gespielt von Tahera Hashemi: als Geflüchtete, die nun als Pflegekraft arbeitet, aber ausgegrenzt bleibt. Bildrechte: Deutsches Nationaltheater Weimar / Foto: Candy Welz

Faust inszeniert mit Emojis und Ballermann-Songs

Es ist ein "Faust" im Dualmodus: schwarz und weiß; "zwei Seelen, ach!" in einer Menschenbrust; ein doppelter Mephisto als Mann und Frau; der binäre Code der digitalen Welt, die uns ein Kreuz sein soll; der alte Faust, der einen durch Denksport gebildeten Geist in einem verfallenden Körper vorstellt, während die junge Generation nur Körper ist ohne Geist. Auch der junge Faust?

In der Logik dieser Inszenierung müsste er ja beides sein, trainierter Geist und trainierter Körper: ein Supermann. Aber das, was Fabian Hagen hier spielt, bleibt blass. Am Anfang, nach der Pause, ist er erst Dandy, der mit seinem Mantel mit Pelzkragen an die 1920er-Jahre erinnert. Aber dann fehlt die Szene, in der er den Konflikt mit Gleichaltrigen und Freunden austrägt, die ja als Ballermann-Monster gezeichnet sind, und ihn, ob seiner Interessen an klassischer Bildung, arrogant finden müssten? Hier im zweiten Teil wird es unterm Strich sehr plakativ, auch konstruiert, wenn sich die Jugend Masken aufsetzt, die wie Emojis aussehen, oder wenn immer noch eine Requisite auf die Drehbühne kommt, um dem Publikum zu zeigen, was dem Regieteam sonst noch so zum Thema Kulturpessimismus eingefallen ist.

Blick auf eine Bühne: zwei Frauen im blauen Scheinwerferlicht, rechts ein großes, schwarzes Kreuz
Margarete und Faust auf der geteilten Bühne. Bildrechte: Deutsches Nationaltheater Weimar / Foto: Candy Welz

Ende einer Ära am DNT Weimar

Die Botschaft am Ende dieser Inszenierung zum Auftakt des "Faust"-Jahres der Stiftung Klassik lautet: Die Welt ist verblödet. "Faust" interessiert keinen mehr. Fällt deswegen der Stein am Ende noch auf den Baum?

Das wird hier nicht verraten. Was verraten wird, ist, dass am Ende die Zuschauer doch sehr bewegt waren und nach dreieinhalb Stunden viele aufstanden, um zu applaudieren. Das war wohl auch schon ein Dank für die elf Jahre Intendanz von Hasko Weber, für Chefdramaturgin Beate Seidel und Jan Neumann, der als Hausregisseur viele sehr gelungene Inszenierungen geschaffen hat, darunter einen herausragenden "Wilhelm Tell", tolle Sommertheater und tolle selbstentwickelte Stücke über Geburt und Tod.

Was hier im "Faust" wirklich überzeugt und auf jeden Fall einen Besuch lohnt, ist der erste Teil bis zur Pause, in dem es natürlich auch um die Zukunft des Kulturtourismus in Weimar geht, dem die Klientel wegbrechen wird, so die Lesart hier. Das ist bitter.

Eisbahn vor dem Goethe Schiller-Denkmal in Weimar
Goethe und Schiller in Weihnachts-Deko: Vor dem DNT in Weimar ist eine Eisbahn aufgebaut. Bildrechte: MDR / Stefan Petraschewsky

Den zweiten Teil kann man zur Zeit gut schwänzen, weil er super zusammengefasst auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Theaterplatz zu erleben ist. Da ist um das Goethe-Schiller-Denkmal eine Eisbahn aufgebaut. Für die ganze Familie mit Glühwein und Thüringer Bratwurst. Und von den Köpfen der Dichterfürsten, die bunt angeleuchtet sind, spannen sich Lichterketten wie ein Baldachin über die Eisbahn.

Wie heißt es im Vorspiel auf dem Theater? "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; und jeder geht zufrieden aus dem Haus." Goethe und Schiller schauen gnädig – sie sind jetzt auch Schirmherren und Deko für einen vorweihnachtlichen Spaß.

Angaben zum Stück

"Faust. Der Tragödie erster Teil" von Johann W. Goethe
Neuinszenierung von Jan Neumann

  • Premiere 07.12.2024
  • Stückdauer 3 Std. 30 Minuten


Deutsches Nationaltheater
99423 Weimar
Theaterplatz 2

Weitere Aufführungen (Auswahl)
13.12., 19:30 Uhr, Ausverkauft eventuell Restkarten an der Abendkasse
20.12., 19:30 Uhr
25.12., 18:00 Uhr
12.01., 16:00 Uhr
24.01., 19:30 Uhr
13.02., 19:00 Uhr

Quelle: MDR KULTUR (Theaterredakteur Stefan Petraschewsky), Redaktionelle Bearbeitung: ksm tis

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Thüringen Journal | 08. Dezember 2024 | 19:00 Uhr

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