Fünf Menschen sitzten vor einem Publikum und einer weißen Wand.
Seit Monaten ist die "Münchener Sicherheitskonferenz" mit ihrer "Zeitenwende on tour" in Deutschland unterwegs. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Sicherheitspolitik "Deutschland denkt wieder strategisch": Gespräch über die Zeitenwende in Erfurt

22. August 2023, 19:26 Uhr

"Zeitenwende on tour" heißt eine Veranstaltungsreihe der Münchner Sicherheitskonferenz. Bundesweit veranstaltet Deutschlands wichtigstes Thinktank zur Sicherheitspolitik seit Wochen Podiumsdiskussionen mit Experten und Politikern zum Ukraine-Krieg, Waffenlieferungen und dem Zustand der Bundeswehr. Am Montag war die Veranstaltungsreihe in Erfurt zu Gast.

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Sollen Deutschland noch mehr Waffen in die Ukraine liefern? Wie kann der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, beendet werden? Wie steht es um die Sicherheit der Bundesrepublik? Reichen 100 Milliarden Euro aus, um die Bundeswehr zu stärken und verteidigungsbereiter zu machen?

Solche Fragen treiben viele Menschen in Deutschland seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine um. Antworten darauf will die "Münchner Sicherheitskonferenz" geben - eines der europa- und weltweit wichtigsten Thinktanks zu Fragen der Sicherheitspolitik. Seit Monaten ist sie mit ihrer "Zeitenwende on tour" in Deutschland unterwegs, um Experten, Politiker und Bürger zu diesen Fragen miteinander ins Gespräch zu bringen. So auch am Montag in Erfurt. Etwa drei Dutzend Zuhörer sitzen im Auditorium, Fragen an die Gäste auf dem Podium konnten vorab per E-Mail eingereicht werden.

Angst vor Eskalation durch Waffenlieferungen

"Es ist vielleicht noch nie so intensiv über Sicherheitspolitik diskutiert worden", sagt Moderator Florian Meesmann vom MDR in seiner Einleitung. Woran es denn liege, dass die Zustimmung zu den Waffenlieferungen an die Ukraine in Mitteldeutschland niedriger sei als im Rest des Landes, richtet er eine der Zuschauerfragen an Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD). "Menschen haben Angst, dass Waffenlieferungen aus Deutschland an die Ukraine zu einer Eskalation führen, die uns letztlich direkt in den Krieg hineinzieht", sagt er.

Solche Ängste müsse Politik ernst nehmen und mit den Menschen darüber reden. Das tue auch Kanzler Olaf Scholz, indem er immer wieder bei den Waffenlieferungen abwäge. Für ihn selbst, so Maier, gebe es keine Zweifel an der Richtigkeit der Waffenlieferungen an die Ukraine, die ihr Selbstbestimmungsrecht gegenüber Russland verteidige.

"Waffenlieferungen richtig und notwendig"

"Russland will die Ukraine vernichten", sagt Oksana Huss, Wissenschaftlerin aus der Ukraine, die seit Jahren über den gesellschaftlichen Wandel in dem Land forscht. Sie berichtet von Reisen in das Land, von Soldatengräbern und Luftalarm, und sagt: "Frieden muss erkämpft werden". Deshalb seien Waffenlieferungen an die Ukraine richtig und notwendig.

Und deutsche Ängste vor einer Eskalation hält die Wissenschaftlerin für unbegründet. "Dänemark und die Niederlande haben die Ukraine auch unterstützt und sie sind deswegen nicht von Russland angegriffen worden. Warum sollte das bei anderen Ländern anders sein?"

Sie wünsche sich, dass die derzeitige Bundesregierung schneller entscheide, sagt die Erfurter CDU-Bundestagsabgeordnete Antje Tillmann. "Es wird immer zwei Monate diskutiert, und dann wird doch geliefert. Das ginge auch schneller." Und sie räumt im Laufe des Abends Fehler der CDU-geführten Bundesregierungen der vergangenen Jahre ein. 2014, als Russland die zur Ukraine gehörende Krim annektiert habe, hätte es eine klare Reaktion Deutschlands gegenüber Russland gebraucht, meint sie. Aus Angst vor einer Eskalation und im Glauben, Russland besänftigen zu können, sei diese ausgeblieben.

Unklarheit über Ziele

Nico Lange, Experte für Sicherheitspolitik bei der Münchner Sicherheitskonferenz, kritisiert die Selbstbezogenheit der Diskussion über Waffenlieferungen in Deutschland. "Manchmal wird so getan, als seien wir die Betroffenen in diesem Krieg. Das sind wir nicht. Das sind die Menschen in der Ukraine." Es gehe nicht darum, "wie es uns geht". Sondern es gehe darum, was militärisch notwendig sei, damit dieser Krieg beendet werden könne.

Einen Grund für die langatmigen Diskussionen in Deutschland über die Waffenlieferungen sieht Lange in der Unklarheit darüber, welche Ziele damit eigentlich verfolgt werden. Hierüber gebe es auch in der Nato keine Einigkeit. Soll die Ukraine den Krieg gewinnen oder ihn nur nicht verlieren?

"Russland verheizt seine Leute"

Thüringens Innenminister Georg Maier findet die Debatte über solche Begrifflichkeiten nicht hilfreich, formuliert aber dann auch zurückhaltend: "Ich will, dass die Ukraine militärisch so stark wird, dass Russland einsieht, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist", sagt Maier. Russland verheize seine eigenen Leute, sei im Grunde schon instabil, wie die Ereignisse um die Wagner-Söldnertruppe und deren Anführer Prigoschin gezeigt hätten. Die Ukraine müsse militärisch so gestärkt werden, dass Russland bereit für Verhandlungen sei, deren Ziel nur der vollständige Abzug russischer Truppen aus dem Territorium der Ukraine sein könne. "Und da zähle ich die Krim auch mit."

Russlandpolitik von Wunschdenken geprägt

Die deutsche Russlandpolitik der vergangenen Jahre sei von Wunschdenken geprägt gewesen, sagt Experte Lange. "Wir wollten, dass Russland ein demokratisches Land wird und haben ignoriert, dass sich dort ein knallhartes Regime entwickelt hat." Notwendig sei ein realistischerer Blick auf die Welt, fordert er.

Beim Umgang mit Russland hätten auch wirtschaftliche Erwägungen eine große Rolle gespielt, meinen Tillmann und Maier. Die deutschen Unternehmen hätten es schon genossen, wettbewerbsfähig zu sein aufgrund billiger Energie aus Russland. Georg Maier berichtet aus seiner Zeit als Bankmanager, seine Bank habe 2014 über die Finanzierung eines LNG-Terminals in Wilhelmshaven beraten und dann schließlich abgelehnt. "Aus der Wirtschaft hieß es damals, das brauchen wir nicht." Seit der Einstellung der Gaslieferungen durch Russland im Jahr 2022 hat Deutschland mit Hochdruck die Infrastruktur für die Anlieferung von Flüssiggas (LNG) aufgebaut.

Wer ist schuld am Zustand der Bundeswehr?

Auch der Zustand der Bundeswehr ist Thema der Diskussion in der "Zentralheize" in Erfurt. Ja, sagt die CDU-Abgeordnete Tillmann, wir haben jahrelang bei der Bundeswehr gespart, weil wir glaubten, wir brauchen sie nicht mehr, wir brauchen keine Außenverteidigung. Aber jetzt sei die Situation anders, "und jetzt müssen wir gegensteuern, und zwar schnell".

Dass Deutschland in den nächsten Jahren die Selbstverpflichtung der Nato-Mitglieder verfehlen werde, zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigung auszugeben, nennt Tillmann einen Betrug von Kanzler Scholz. Und erntet prompt eine Entgegnung vom SPD-Politiker Maier: Die CDU habe als Regierungspartei in den vergangenen Jahren die Bundeswehr in die jetzige Situation gebracht.

Die Zentralheize in Erfurt von außen.
Die Diskussion der "Münchener Sicherheitskonferenz" fand in der Erfurter Zentralheize" statt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

"Deutschland denkt wieder strategisch"

Experte Lange verweist hingegen auf einen konkreten Aspekt der Zeitenwende: Deutschland fange wieder an, strategisch zu denken, sagt er und nennt als Beispiel den "Sky shield". Deutschland kaufe in Israel neue Waffensysteme zur Luftverteidigung und platziere diese so, dass sie auch das Territorium benachbarter Länder mit schützten. Auch die dauerhafte Stationierung einer Bundeswehr-Brigade mit rund 4.000 Soldaten in Litauen sei ein Beispiel für dieses neue Denken.

Oksana Huss wirbt indes dafür, dass die Ukraine die Unterstützung des Westens auch rechtfertigen könne. Das Land habe seit 2014 grundlegende Reformen begonnen. Die Menschen hätten den Wert von Demokratie und Mitbestimmung schätzen gelernt und verteidigten diese nun gegen Russland.

Mehr zum Krieg in der Ukraine

MDR (jn)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 21. August 2023 | 19:00 Uhr

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