Ausblick aus einer der vielen Sozialbauwohnungen in Dresden Prohlis.
"Da sagen sie immer, die Menschenwürde ist unantastbar, aber nichts ist", sagt die gelernte Köchin Ramona Bormann. Sie ist seit Jahren auf Hartz IV angewiesen. (Symbolfoto) Bildrechte: MDR/Moritz Dehler

Leben Drei Euro mehr: Wie es Hartz-IV-Empfängern in Thüringen damit geht

16. März 2022, 05:00 Uhr

Hartz-IV-Empfänger bekommen seit Anfang dieses Jahres mehr Geld: Der Regelsatz wurde um drei Euro erhöht. MDR THÜRINGEN hat darüber mit zwei Betroffenen und der Geschäftsführerin einer Arbeitsloseninitiative gesprochen.

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Bildrechte: MDR/Carmen Fiedler

"Seit dem 1. Januar 2022 gibt es für diejenigen mehr Geld, die auf Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II angewiesen sind", heißt es auf der Website der Bundesregierung. Mehr Geld – damit sind drei Euro monatlich gemeint.

Wie die Hartz-IV-Regelsätze berechnet werden und warum sie um nur drei Euro erhöht wurden

Grundlage der Erhöhung für die Hartz-IV-Regelsätze 2022 sind die Bedarfssätze aus dem Jahr 2021. Das Statistische Bundesamt errechnet die sogenannte Fortschreibung der Regelbedarfe jährlich anhand eines Mischindex. Dieser setzt sich zu 70 Prozent aus der Preisentwicklung und zu 30 Prozent aus der Nettolohnentwicklung zusammen. 
Grundsätzlich festgelegt werden die Regelsätze auf Basis einer Einkaufs- und Verbraucherstichprobe (EVS). Diese wird alle fünf Jahre durchgeführt, zuletzt 2018. In den Jahren, in denen keine EVS durchgeführt wird, ist eine Fortschreibung der Regelbedarfsstufen vorgesehen. (Quelle: Bundesregierung)

Das heißt: Die aktuellen starken Preissteigerungen sind in der Berechnung nicht berücksichtigt.

"Das ist eine Unverschämtheit", sagt Ingrid Schindler, seit 1992 Geschäftsführerin bei der Thüringer Arbeitsloseninitiative (Talisa). "Es ist sittenwidrig, den Menschen in diesen Krisenzeiten nur drei Euro mehr zu bewilligen. Ich war entsetzt, dass sich die Bundesregierung dazu herabgelassen hat, das zu verantworten."

Die gelernte Köchin Ramona Bormann nickt. "Jetzt, wo alles teurer wird. Für uns wird es doch genauso teurer!" Seit 2012 ist sie arbeitslos. Seitdem hat die 60-Jährige viele Maßnahmen bei Bildungsträgern durchlaufen, sie hat Computerlehrgänge belegt und Umschulungen. Nichts davon hat ihr geholfen, eine Arbeit zu finden. "Ich habe so viele Bewerbungen abgegeben, aber nur Absagen bekommen." Jetzt arbeitet die Erfurterin im Rahmen einer 1,50-Euro-Maßnahme in der Lebensmittelausgabe der Talisa.

Hat nicht mal die Politik gesagt, dass ein Arbeitsloser fünf Euro pro Tag ausgeben soll? Das geht gar nicht.

Wolfgang Blau gelernter Kocher

So wie auch Wolfgang Blau. Er hat bis zur Wende als Kocher in der Stahlindustrie gearbeitet, doch dann wurde sein Betrieb geschlossen. Seitdem hat er nie wieder eine Stelle in seinem Beruf gefunden. Eine Weile war der Erfurter bei der Stadt im Grünpflegebereich angestellt, aber das war nur eine Maßnahme, die irgendwann auslief. Nun sitzt er mit Ramona Bormann am großen Tisch im Büro von Ingrid Schindler und versucht zu erzählen, wie es ihm damit geht. "Hat die Politik nicht mal gesagt, dass ein Arbeitsloser fünf Euro pro Tag ausgeben soll? Das geht gar nicht", sagt er.

Der Alleinstehende bekommt den Hartz-IV-Regelsatz von 449 Euro. Einen Teil davon muss Blau für Miete und die stark gestiegenen Nebenkosten ausgeben: Das Jobcenter übernimmt laut Talisa pro Haushalt aktuell 428 Euro Miete und 56 Euro Stromkosten - alles, was darüber liegt, muss der Hartz-IV-Empfänger selber tragen. Talisa-Geschäftsführerin Schindler fügt hinzu, dass von den Fernwärmekosten - also Heizung und warmes Wasser - in der Regel nur zwei Drittel übernommen werden.

Lebensmittel holt sich Blau bei den Tafelausgabestellen. "Ich ernähre mich von den Lebensmittelausgaben in Erfurt." Alles andere muss er vom Rest seines Geldes kaufen: Kleidung, Schuhe, Hygieneartikel, Putzmittel, Haushaltsgeräte, Glühbirnen, Fahrkarten, Technik, Bücher, Zeitungen, Medikamente. "Das ist ein Überlebenskampf", sagt Ingrid Schindler. "Die Politiker, die über den Regelsatz entscheiden, kennen gar nicht die realen Preise."

Die Politiker, die diese Entscheidung treffen, wissen nicht, was das bedeutet.

Ingrid Schindler Geschäftsführerin der Thüringer Arbeitsloseninitiative

Gerade jetzt, gerade in diesen Zeiten. "Wenn ich mir die Inflationsrate von drei Prozent und die versteckte Inflationsrate von acht Prozent ansehe, dann ist es noch entwürdigender, von einer Erhöhung von drei Euro zu reden, überhaupt von Erhöhung zu reden", sagt Ingrid Schindler. "Die Politiker, die diese Entscheidung treffen, wissen nicht, was das bedeutet."

Ukraine-Krieg verstärkt die Not

Hinzu komme: Durch die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine sei es für viele Menschen unmöglich geworden, mit dem Auto unterwegs zu sein. Doch besonders vor den hohen Strompreisen hätten Hartz-IV-Empfänger nun Angst. "Die Frage ist, woher sollen die Rücklagen kommen, die man vorrätig haben soll, um die Energiekosten zu bezahlen?" Und noch etwas ärgert Ingrid Schindler: "All die Jahre wurde Soziales in Deutschland abgebaut und mit einem Mal sind Milliarden da, um in die Rüstung zu investieren."

Drei Euro sind ein Lacher.

Ramona Bormann gelernte Köchin

"Da sagen sie immer, die Menschenwürde ist unantastbar, aber nichts ist", sagt Ramona Bormann. "Drei Euro sind ein Lacher." Zu DDR-Zeiten hat sie in der Großküche der Erfurter Post gearbeitet. Sie hatte sogar einen Beamtenstatus. Ramona Bormann blüht ein bisschen auf, während sie erzählt, wie ihre Uniform aussah, die sie bei offiziellen Anlässen und Feiern getragen hat. "Bis 1995 war ich bei der Post." Doch nach und nach wurde vieles wegrationalisiert, auch ihre Stelle. Natürlich hat sie sich als Köchin beworben. Doch: "In Gaststätten habe ich nur Ablehnungen gekriegt."

Heute kauft sie Lebensmittel nur dann ein, wenn sie in den Discountern im Angebot sind. "Ich friere vieles ein", sagt sie. "Ich trage meine Klamotten, bis sie abfallen. Wenn ich eine Bluse oder eine Hose brauche, gehe ich in die Kleiderspende und kaufe mir dort etwas für fünf Euro. Anders geht es gar nicht."

Es geht doch das Arbeitsamt nichts an, was mein Lebenspartner hat.

Ramona Bormann gelernte Köchin

Sie wohnt mit ihrem Lebenspartner, er ist Rentner, zusammen. Sie zählen als sogenannte Bedarfsgemeinschaft. Das heißt, dass alles, was ihr Partner an Rente bekommt und was ihm an Vermögen gehört, auf den Regelsatz von Ramona Bormann angerechnet wird. Sogar sein Auto muss sie angeben, inklusive des Kilometerstands und des Alters. "Es geht doch das Arbeitsamt nichts an, was mein Lebenspartner hat." Entwürdigend sei das.

Wenn es hochkommt, haben wir zu zweit 400 Euro zum Leben.

Ramona Bormann gelernte Köchin

Auch bei ihr geht ein Großteil des Geldes für Miete und Nebenkosten ab. Am Ende bleibt nicht viel. "Wenn es hochkommt, haben wir zu zweit 400 Euro zum Leben." Und davon solle man noch Rücklagen bilden? Und zwar nicht nur für die stark gestiegenen Energiekosten, sondern auch für den Hausrat. "Das bisschen, was du hast, sollst du noch sparen, falls mal ein Haushaltsgerät kaputtgeht", sagt Ramona Bormann.

Arbeitslose sind Facharbeiter, die irgendwann keinen Job mehr bekommen haben.

Ingrid Schindler Geschäftsführerin der Thüringer Arbeitsloseninitiative

Entwürdigend ist nicht nur, zu wenig Geld für das Nötigste zu haben. Entwürdigend ist auch, nicht mehr gebraucht zu werden. "Arbeitslose sind Facharbeiter, die irgendwann keinen Job mehr bekommen haben", sagt Ingrid Schindler von der Arbeitsloseninitiative. "Da werden Ressourcen vergeudet. Wir brauchen hier dringend Wege, um den Menschen aus der Arbeitslosigkeit herauszuhelfen." Einzelne Programme gebe es zwar, aber die reichten bei weitem nicht aus. "Wenn ich nicht gebraucht werde, werde ich psychisch krank und dann auch physisch. Arbeit ist mehr als Erwerb."

Einkommen zum Auskommen

Was sollte sich jetzt ändern? "Ich möchte ein Einkommen zum Auskommen haben", sagt Ingrid Schindler. "Die großen Sozialverbände fordern, den Regelsatz sofort auf 720 Euro zu setzen, aber das wäre nur ein kleiner Schritt." Ramona Bormann antwortet: "Ach, da sind wir weit davon entfernt."

Die Thüringer Arbeitsloseninitiative in Erfurt.
Die Thüringer Arbeitsloseninitiative in Erfurt. Bildrechte: MDR/Carmen Fiedler

"Soll das so weitergehen, dass viele Politiker ihr Gewissen damit beruhigen, dass sie einmal im Jahr in der Weihnachtszeit hier anrufen und anbieten, ein einziges Mal bei der Lebensmittelausgabe zu helfen? Oder ist es nicht besser, grundsätzlich etwas zu tun? Hartz IV gehört abgeschafft."

Mit den Enkeln ins Schwimmbad

Und was wünscht sich Ramona Bormann? "Dass ich mit meinen Enkeln auch mal auf die Ega kann oder in den Zoo." Nicht einmal in die Schwimmhalle oder ins Freibad kann sie mit ihren fünf Enkelkindern. Fährt sie denn manchmal in den Urlaub? Ramona Bormann schaut ungläubig. "Urlaub habe ich mir noch nie leisten können, da müsste ich ja zwei bis drei Jahre sparen!"

Seit der Wende kein Urlaub


Und Wolfgang Blau sagt: "Ich war das letzte Mal zu DDR-Zeiten im Urlaub." Auf die Frage, wie hoch der Regelsatz sein sollte, antwortet er nach einigem Zögern: "1.500 Euro pro Monat. Das wäre meine Vorstellung." Es scheint ihm ein bisschen peinlich zu sein, soviel zu fordern. Ramona Bormann erwidert: "Ja, aber davon können wir nur träumen."


Anmerkung der Redaktion: Wir haben die Angaben zur Übernahme von Miete und Nebenkosten durch das Jobcenter im Nachhinein korrigiert

MDR (caf)

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