Gebärdendolmetscherin Claudia Oelze begrüßt die Teilnehmer
Gebärdendolmetscherin Claudia Oelze zeigt "begrüßen". Bildrechte: MDR/Isabelle Fleck

Gebärdensprache Singen mit den Händen: Kirchgemeinde sucht Mitstreiter für Gebärdensprach-Chor

21. Dezember 2022, 05:00 Uhr

Lieder, nicht zum Hören, sondern zum Gucken. In Erfurt hat sich ein besonderer Chor gegründet: Ein Gebärdensprach-Chor. Alle zwei Wochen wird geprobt. Im Moment natürlich Weihnachtslieder. Wir waren bei der Chorprobe zu Besuch.

Oh du fröhliche, oh du selige

"Weihnachtszeit, fröhlich
Weihnachtszeit, selig
gnadenbringende.
Welt verloren, Christ geboren.
Freue, freue Christenheit."

Der kleine Matheo klettert auf den Schoß von Gebärdendolmetscherin und Chorleiterin Claudia Oelze. Vorher ist er durch den Probenraum getobt, hat mit einem Auto gespielt, seine kleine Schwester Eva gedrückt und geküsst, ist von Stuhl zu Stuhl gegangen und jetzt kommt er zur Ruhe. Claudia Oelze nimmt seine Hände und beide zeigen der Gruppe, wie "Oh du fröhliche" auf Gebärdensprache aussieht.

Gebärdendolmetscherin Claudia Oelze zeigt einen Weihnachtsbaum mit dem kleinen Matteo auf dem Schoß.
Claudia mit Matheo auf dem Schoß. Beide zeigen der Gruppe, wie "Oh du fröhliche" aussehen muss. Bildrechte: MDR/Isabelle Fleck

Matheo singt mit zwei Hörgeräten - und mit den Händen

Der Junge ist noch keine zwei Jahre alt. An beiden Ohren trägt er Hörgeräte. Seine Mutter Julia erzählt von einem angeknacksten 18. Chromosom und engen Gehörgängen. Sie sagt, der Chor habe schon erste Spuren in der Familie hinterlassen. "Wenn wir zu Hause Weihnachtslieder singen, wie 'Oh Tannenbaum', dann singt er schon mit - und er ist er noch nicht mal zwei." Matteo singt dann mit den Händen.

Drei Mal hat der noch junge Chor bisher geprobt. Diesmal ist neben Mutter Julia und Papa Franz auch die Patentante der kleinen Schwester dabei, Karo. Sie stellt sich der Runde mit Gebärden vor. Sie lernt die Gebärdensprache, um sich mit Matheo zu verständigen. "Ich finde es eine sehr schöne Art, sich auszudrücken und einfach praktisch."

Die Leiterin des Gebärdensprach-Chors zeigt die Geste für "Krieg" - ineinander verschränkte Hände.
Die so verschränkten Hände stehen für "Krieg". Bildrechte: MDR/Isabelle Fleck

Neben der Familie sitzt noch eine Julia. Sie arbeitet in der Frühförderstelle in Erfurt, ist für Hören und Kommunikation zuständig. Sie arbeitet mit Kindern, die eine Hörbeeinträchtigung haben und lernt hier mit Freude neues dazu. "Ein Chor, der Musik und Gebärden vereint, das fand ich ganz spannend. Außerdem ist es schön, hier noch andere Menschen kennenzulernen", erzählt sie. Julia von der Frühförderstelle schaut gemeinsam mit Dorothee Schneider auf das Textblatt. Sie hat die Gehörlosenseelsorge im Kirchenkreis Erfurt übernommen und muss auch noch fitter in Gebärdensprache werden.

Geste für Besucher
Julia (links) und Dorothee (rechts) zeigen die Vokabel "besuchen". Dabei ist es z.B. wichtig, in welche Richtung die Hände zeigen - ob man also jemanden besucht oder Besuch bekommt. Bildrechte: MDR/Isabelle Fleck

Auch wenn die Runde noch klein ist, sie ist mit Freude dabei. Gebärdendolmetscherin Claudia Oelze erklärt die Basics, wie sich Vokabeln aufbauen - wie die Sätze strukturiert sind, dass die Verben immer hinten stehen. Sie erarbeitet mit den Teilnehmern, worauf es bei den verschiedenen Liedern ankommt, und möchte, dass alles auch poetisch ist.

Gebärdensprache kann auch Poesie. Hier kann sich jeder einbringen. Es ist nicht so ein Stino-Gebärdensprachkurs, sondern es ist ein bisschen mehr. Es soll halt Spaß machen.

Claudia Oelze, Gebärdendolmetscherin und Chorleiterin

Gebärdendolmetscherin Claudia Oelze reibt mit der obeneren über die untere Hand - das bedeutet "verzeihen".
So sieht "verzeihen" aus. Bildrechte: MDR/Isabelle Fleck

Mitmachen beim Gebärdensprach-Chor Rock, Pop, Poesie: Lieder in Gebärdensprache singen - das können sowohl Gehörlose als auch Hörende. Alle 14 Tage freitags wird in Erfurt geprobt. Treffpunkt ist die Thomasgemeinde in der Puschkinstraße. Vorkenntnisse nicht erforderlich. Anmeldung erwünscht unter gehoerlosenseelsorge.kirchenkreis.erfurt@ekmd.de

Lieder für die Augen

Gebärdensprache sei ihre Muttersprache, erzählt Claudia Oelze. Zuhause unterhielt sie sich mit ihren gehörlosen Eltern so. Mit drei Jahren lernte sie Lautsprache - denn im Kindergarten verstand plötzlich niemand ihre Gesten. Und sie verstand nicht, wieso. Claudia Oelze erzählt, dass sie zweisprachig aufgewachsen sei. Sie übersetzt heute für MDR aktuell oder den KiKa Sendungen und hat sich mit dem Chor einen Wunsch erfüllt. Sie erzählt von einem Konzert in Gebärdensprache und man fragt sich: Was heißt das jetzt? Ist da auch Musik zu hören? Oder sieht man die Texte ohne Töne? Es ist unterschiedlich:

Wir fangen gerade an, zu gestalten - also die Gruppe zu teilen und ein bisschen ein Chor-Gefühl aufkommen zu lassen. Es wird ja nicht unterteilt in Sopran, Tenor und Alt - solche Stimmen gibt es ja nicht. Aber ein bisschen Wechsel zwischen den einzelnen Sängern, das ist schon das Ziel. Dass man die Lieder auch abwechslungsreich gestaltet.

Claudia Oelze, Gebärdendolmetscherin und Chorleiterin

Es sei wichtig, dass es nicht "durcheinander" zugeht, dass die Vokabeln auch stimmen. Sie erzählt eine Anekdote, wie leicht es zu Verwechslungen kommen kann: Denn zwischen dem Wort "Grund" und der Vokabel "nackt" unterscheidet nur, ob die Handfläche nach oben oder unten gedreht ist. Das kann schnell unfreiwillig komisch werden.

Die Teilnehmer des Gebärdensprach-Chors zeigen mit den Händen das Wort "finden".
Die Hände sagen: "Finden". Bildrechte: MDR/Isabelle Fleck

Gebärdensprache stellt Wesentliches in den Mittelpunkt

Mit Blick auf den Text zu "Oh du fröhliche" könnte man denken: Hier ist alles reduziert auf das Nötigste. Doch das stimmt nicht ganz. Besser wäre zu sagen: Schaut man sich allein den Text an, ist er auf das Nötigste reduziert. Trägt der Gebärdensprach-Chor ihn vor, werden die Worte jedoch "mehrdimensional" gezeigt. In der Fachsprache sind es die vier Phoneme: Handstellung, Handform, Bewegung und Ort sind wichtig für die Grammatik.

Damit auch wirklich das ankommt, was ankommen soll, ist es zudem wichtig, wo sich die Hände befinden, in welche Richtung die Bewegung abläuft, wohin sich die Gebärdensprachnutzer drehen. Claudia Oelze schreibt in einer Tabelle in einer Spalte den Text, in die andere die "Glosse" - also die Übersetzung in Großbuchstaben. Bei "Freu' dich Erd und Sternenzelt" sieht das so aus:

Liedtext (Körperhaltung, Mimik lernen die Teilnehmer dazu)
Freu dich, Erd und Sternenzelt ERDEKUGEL VON UNTEN NACH OBEN - STERN BALDACHIN AUFZIEHEN
Gottes Sohn kam in die Welt GOTT SEIN SOHN HIMMEL - WELT-KOMMT RICHTUNG
Uns zum Heil erkoren, ward er heut geboren FÜR UNS HEIL BRINGT - HEUT ER GEBOREN
Heute uns geboren. HEUT ER GEBOREN


Ein Weihnachtsauftritt ist nicht geplant, aber der Chor schaut schon jetzt auf den Tag der Gehörlosen im August 2023. Der erste Auftritt soll dann in Mühlhausen stattfinden. Dafür probt die Gruppe schon jetzt und Claudia Oelze freut sich auf Hörende und Gebärdensprachnutzer im Publikum. "Man darf sich eingeladen fühlen, dass man Musik und Text anders präsentiert bekommt." Vielleicht gibt es Textzettel oder Stellen, an denen das (hörende) Publikum ein bisschen rätseln kann, worum es geht.

Ich bin immer ein Fan davon, die Kultur so zu lassen, wie sie ist. Und das ist eben ohne ein Sinneseindruck für die Ohren, sondern nur ein Sinneseindruck für die Augen. Es geht darum, sich berühren zu lassen - wie bei allem Künstlerischen. Und vielleicht sind Besucher begeistert, dass so schön mit den Händen gesungen werden kann.

Claudia Oelze, Gebärdendolmetscherin und Chorleiterin

Mimik, Handstellung und Bewegung machen aus dem knappen Text ein besonderes Weihnachtslied zum Ansehen:

"Weihnachtszeit, fröhlich
Weihnachtszeit, selig
gnadenbringende."

Die passenden Wörter

Mit diesen Wörtern beschreiben Betroffene ihre Situation selbst (+), andere Worte verwenden sie nicht gern bzw. empfinden sie als abwertend (-):

+ Gebärdensprachnutzer (können die Gebärdensprache nutzen, auch wenn sie etwas hören können)
+ taub / engl. dumb
+ Höreinschränkung, Hörminderung
+/- gehörlos - nicht sehr beliebt, denn diese Menschen haben ihr Gehör ja nicht "losgelassen"
- taubstumm - Schimpfwort vgl. mit "Krüppel"
- Zeichensprache - nicht benutzen, Zeichen sind eher Piktogramme in Bahn und Flugzeug, hier geht es um grammatische Regeln (die sich aber von den Regeln der deutschen Lautsprache unterscheiden)

MDR (ifl)

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https://www.mdr.de/mdr-garten/geniessen/traumgarten/duftgarten-blinde-gehoerlose-garten-radeberg-blindengarten-100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Johannes und der Morgenhahn | 21. Dezember 2022 | 05:00 Uhr

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