Thüringer in der Krise "Ich will nicht, dass unser Kind fragt: Sind wir jetzt arm?"

26. November 2022, 14:00 Uhr

Energiekrise und Inflation setzen den Menschen in Thüringen flächendeckend zu. In allen sozialen Schichten kämpfen Haushalte und Familien mit den Folgen der steigenden Preise. Selbst die eigentlich gutsituierte Mittelschicht sorgt sich um die Zukunft. Auch wenn hier die Nöte weniger existenziell sind, so bangen doch auch sie um den mühsam errungenen Wohlstand – so wie zum Beispiel Familie Kästner aus Erfurt.

Die Kästerns* klagen nicht. "Ja, es ist jetzt enger", sagt Papa Jan, "aber es ist nicht so, dass wir abends dasitzen und grübeln, wie wir über den nächsten Monat kommen." Doch frei von Sorgen ist die Familie deswegen nicht, weshalb Mama Marie ergänzt: "Also noch nicht, aber man hat schon Angst bei all dem, was man so hört."

Seit zwei Jahren leben die Kästners in einer Erfurter Einfamilienhaussiedlung. Per Kredit finanzierten sie sich den Traum vom eigenen Zuhause. In der Einfahrt stehen ein Kleinwagen und ein Kleinbus - der nötig wurde, als vor vier Monaten das dritte Kind zur Welt kam. Wer eine Vorstellung davon hat, was ein Haus samt Grundstück in Erfurt und drei Kinder im Alter von acht Jahren, vier Jahren und vier Monaten kosten, bekommt einen Eindruck davon, wie viel für die Kästners in der Krise auf dem Spiel steht.

Elterngeld und Inflation zur gleichen Zeit

Dass die Familie trotzdem zuversichtlich bleibt, liegt daran, dass Marie und Jan zwei sichere und relativ (zum Thüringer Durchschnitt) gut bezahlte Jobs haben. Marie ist Ökotrophologin und arbeitet für ein Thüringer Lebensmittelunternehmen. Jan war früher Frisörmeister, bis er Kamm und Schere an den Nagel hing und ein Studium nachholte. Heute arbeitet er als Sozialcoach. In seinem Job hilft er Sozialhilfeempfängern wieder auf die Beine zu kommen. Seine Klienten sind in der Regel Härtefälle, wie Obdachlose oder Drogenabhängige.

Wenn beide Vollzeit arbeiten, liegt ihr verfügbares Monatseinkommen zwischen 4.500 und 5.000 Euro. Damit zählen sie laut der Bertelsmann Stiftung zur mittleren Mittelschicht in Deutschland. Doch weil Marie derzeit in Elternzeit ist, fehlen der Familie gerade rund 1.000 Euro im Monat. Nimmt man die im September erschienene Sparkassenstudie ernst, dann liegen die Kästners während der Elternzeit nur noch knapp über der Armutsgrenze. "Das mit dem Kind zusätzliche Kosten entstehen, das plant man ja", sagt Marie, "aber, dass jetzt ringsherum alles teurer wird, das war ja nicht absehbar." 

Nebenkosten haben sich verdoppelt

Für die nächsten Monate gilt deswegen mehr als sonst: das Geld zusammenhalten. Denn die laufenden Kosten werden nicht kleiner: zwei Kredite, die Privatschule für den Ältesten, den Kindergarten für den Mittleren und die Versicherungen müssen bezahlt werden. Hinzu kommen die Nebenkosten, die sich für das Haus bisher bereits verdoppelt haben. Die Kästners heizen mit Gas und haben einen kleinen Holzofen im Wohnzimmer.

"Ich habe gerade noch nicht so die Angst vor der großen Nachzahlung", sagt Jan, der seit jeher seine Abschlagszahlungen großzügig gestaltet, um auf der sicheren Seite zu sein. Was aber, wenn die Gaspreise hoch bleiben und der Winter lang wird? "Im Moment würde uns eine Nachzahlung von 3.000 Euro zwar wehtun, aber man hätte Rücklagen. Aber ewig hoch sind die nicht", sagt Marie.  

Verzicht im Alltag

Um der veränderten Einnahmen- und Ausgabensituation zu begegnen, versuchen die Kästners Geld im Alltag zu sparen. Die Einkäufe erledigt Marie, die als studierte Haushalts- und Ernährungswissenschaftlerin mit wenig Geld wahre Wunder bewirken kann. Bisher versorgte sie die Familie mit etwa 100 bis 150 Euro in der Woche. Doch Inflation und das dritte Kind schlagen auch hier zu Buche: "Jetzt sind es mindestens 150 Euro", sagt sie und verzichtet daher regelmäßig auf Fleisch, Zeitschriften und andere Produkte, die nicht dringend nötig sind.

Auch Jan, der als Musikliebhaber Schallplatten sammelt, verkneift sich sein Hobby: "Brauchst du die Platte jetzt wirklich? Nee eigentlich nicht, also lässt du es. Gibt eh nur Ärger", scherzt er und blickt zu seiner Frau, die liebevoll die Augen verdreht. Sparsamkeit versuchen sie auch ihren Söhnen beizubringen: "Licht brauchste‘ jetzt nicht, mach‘ deine Tür zu, lass das Fenster nicht so lange auf. So kleine Sachen, die man früher auch von Mutti gehört hat", predigen sie jetzt selbst, erzählt Jan.

Die Entlastungspakete haben geholfen

Beim Thema Entlastungspakete müssen die beiden länger nachdenken: "Haben wir davon profitiert?", fragt Jan. Marie überlegt: "Ja, also ich war ein sehr dankbarer Abnehmer für das 9-Euro-Ticket, das war super." Gerade als Mutter in Elternzeit habe ihr das enorm geholfen und auch der große Sohn konnte mit dem Ticket Ausflüge mit den Großeltern machen. "Auch das erhöhte Kindergeld haben wir bekommen. Das ist dann aber gleich in den Urlaub geflossen", fügt Marie hinzu. 

Jan nickt. Auch er hat auf seinen täglichen Wegen vom gesenkten Benzinpreis profitiert und die 300 Euro Energiepauschale hat er auch gern genommen. "Alles, was man an Geld bekommt, das ist ja erstmal positiv", führt er aus. "Ich habe Menschen auf Arbeit, für die sind 300 Euro eine Menge Geld. Es ist also nicht so, dass man komplett im Regen stehen gelassen wird."

"Ich will nicht, dass unser Kind fragt: Sind wir jetzt arm?"

Trotzdem befürchten die beiden, dass die Entlastungspakete nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sind, weil die Preise langfristig hoch bleiben könnten. Die Sorge ist, dass "wenn jetzt Familien wie wir sagen, ok, wir kriegen das irgendwie hin. Dass dann, wenn sich die Situation wieder entspannen könnte, Konzerne denken, das hat doch funktioniert, dann bleiben wir auf dem Preisniveau", sagt Jan. Es ist die Sorge, dass langfristig die eigene Kaufkraft schwindet und der mühsam erarbeitete Wohlstand in Gefahr gerät.

Für beide steht aber fest: "An unseren Kindern sparen wir nicht." Insbesondere die Ausbildung der Söhne und ihre Hobbies sollen Vorrang haben. "Lieber trage ich meinen Wintermantel nochmal zwei Jahre länger, als dass es meinen Kindern an etwas fehlt", sagt Marie. Natürlich bekommen die Kinder deswegen längst nicht alles, denn auch sie sollen den Umgang mit Geld lernen. Beim Einkaufen zum Beispiel: "Die dürfen sich dann was aussuchen, aber nur eins und natürlich keine Spielsache außer der Reihe", sagt Marie. Sie wolle aber auch nicht ständig mahnen, dass dieses oder jenes zu teuer ist. "Ich will nicht, dass unser Kind fragt: Sind wir jetzt arm?", sagt sie. Es ist ein Satz der wohl allen Thüringer Eltern aus dem Herzen spricht.

* Anmerkung der Redaktion: Die Namen haben wir auf Wunsch der Familie geändert.

Wie kommen Thüringerinnen und Thüringer durch die Energiekrise? MDR THÜRINGEN hat dazu mehrere Menschen, die einen Einblick in ihre aktuelle Lebenssituation geben wollen, befragt und besucht. Weitere Artikel unserer Serie können Sie in den nächsten Tagen auf mdr-thueringen.de lesen.

MDR (ask)

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