Jugendliche "Careleaver" Vom schwierigen Start aus der Jugendhilfe ins selbstbestimmte Leben
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10. Juni 2023, 14:19 Uhr
"Careleaver" sind junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in Einrichtungen der Jugendhilfe verbracht haben. Die Gründe dafür sind sehr verschieden. In der Regel gehen die Jugendlichen zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr. Dabei ist der Übergang in ein selbstständiges Leben gerade für sie oft besonders schwierig.
- Warum nicht alle jungen Menschen die gleichen Chancen haben
- Was das "Careleaver"-Zentrum für die Jugendlichen tut
- Warum die Gesetzesänderungen so langsam in der Praxis ankommen
Caro lebt im Kinder- und Jugenddorf "Regenbogen" in Zella-Mehlis. Und das, seit sie 15 Jahre alt ist. Doch langsam kommt die Zeit, ihre Koffer zu packen, denn Caro steckt mitten in den Bewerbungen zum Studium.
Sie wolle später auch in der Jugendhilfe arbeiten, erzählt sie. "Seit September mache ich einen Freiwilligendienst in einem Kinder- und Jugendfreizeittreff, also in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Das macht mir sehr, sehr großen Spaß. Und in die Richtung möchte ich dann später auch gehen."
Aber auch wenn Caro sich auf den neuen Lebensabschnitt freut, macht er ihr ein bisschen Angst. Denn für junge Menschen, die aus der stationären Jugendhilfe ins Leben starten, ist alles etwas anders als für die, die aus Familien kommen.
Emotionaler Rückhalt wird ihr fehlen
Denn mit ihrem Auszug sind sie aus dem System "Jugendhilfe" raus, wie Caro sagt. "Dann ist niemand mehr für dich da, der dir hilft. Du bist dann halt komplett auf dich alleine gestellt." Die Eltern kann man jederzeit anrufen, egal, ob es um die Kochzeit von Kartoffeln geht oder um Probleme in Studium oder Job. Weihnachten kann man sie besuchen und wenn alles schief läuft, wartet meist noch das alte Kinderzimmer.
Es ist ein englischer Begriff, weil wir eben auch keinen Begriff in Deutschland haben, der das nicht-stigmatisierend ausdrückt. Care steht hier für Hilfe und leave für verlassen.
Die ehemaligen Betreuer haben dann aber ja schon wieder neue Kinder, um die sie sich kümmern müssen. "Dass man da plötzlich keinen emotionalen Rückhalt mehr hat, macht vielen sehr, sehr zu schaffen", sagt Caro.
Chancengleichheit für alle jungen Menschen
Diese Lücke zu schließen, ist das Ziel des Careleaver-Zentrums Thüringen. Gegründet als Projekt der Jugendberufshilfe, kümmert es sich inzwischen um nahezu alle Probleme von jungen Menschen, die in der Jugendhilfe gelebt haben. Egal, ob in einer Wohngruppe oder bei Pflegeeltern, die also irgendeine sogenannte "erzieherische Hilfe stationär" bekommen haben und die sich am Übergang in ein eigenständiges Leben befinden.
Dabei ist es egal, ob sie kurz vor dem Auszug aus der Jugendhilfe stehen oder eben auch schon ausgezogen sind, erzählt Antje Müller, die das Zentrum in Erfurt leitet. "Der Begriff Careleaver ist ein selbst gewählter Begriff dieser jungen Menschen. Es ist ein englischer Begriff, weil wir eben auch keinen Begriff in Deutschland haben, der das nicht-stigmatisierend ausdrückt. Care steht hier für Hilfe und leave für verlassen."
Mehr Schwierigkeiten als andere Jugendliche
Besonders Careleaver müssen sich durch ihren bisherigen schwierigen Lebensweg einer Vielzahl an Problemen stellen. Der wohnliche Wechsel und die Ausbildung werden im Zuge des selbstständigen Lebens kompliziert. Vergangenheitsverschuldete emotionale Belastung, der Verlust eines stabilen Familiensystems und somit Schwierigkeiten in der Finanzierung und Strukturierung des Alltags sind zusätzliche Hürden.
Das Careleaver-Zentrum Thüringen
Das Careleaver-Zentrum Thüringen wurde 2019 gegründet und ist ein Projekt der Initiative Brückensteine Careleaver, finanziert von der Drosos Stiftung und wird von der Jugendberufshilfe Thüringen e.V. umgesetzt.
In Erfurt:
Antje Müller + Antje Krone
antje.mueller@jbhth.de
antje.krone@jbhth.de
In Bad Frankenhausen:
Christin Juris
christin.juris@jbhth.de
Ein Ziel von Antje Müller und ihre Kolleginnen ist es, für diese jungen Menschen gleiche Chancen zu schaffen. Am Anfang ging es den Sozialarbeiterinnen deshalb zunächst um Aufklärung.
Es war ihnen wichtig, überhaupt erst einmal deutlich zu machen, dass es besondere Herausforderungen für junge Menschen gibt, die am Übergang von der Jugendhilfe in ein eigenständiges Leben stehen, dass sie deutlich mehr Schwierigkeiten beim Start in ihre Zukunft haben, als Kinder aus klassischen Familienstrukturen. Und dass man sich diesen Herausforderungen auch gezielter widmen sollte.
Immer neue Aufgaben entstehen aus der Arbeit
Inzwischen ist das Aufgabenspektrum breiter, erzählt Antje Müller: "Wir bieten Unterstützung in ganz Thüringen, das heißt individuelle Beratung, Begleitung für junge Careleaver, die sich an uns wenden, aber auch für Fachkräfte aus Jugendhilfeeinrichtungen, die Beratungsbedarf in diesem Bereich haben. Also für beide Ebenen sozusagen."
Allerdings gibt es in Thüringen mindestens 260 Einrichtungen von verschiedenen Trägern. Das Careleaver-Zentrum verfügt aber derzeit nur über 1,5 Personalstellen. Deshalb ist das Team darauf angewiesen, dass die Erzieherinnen und Betreuer in den Einrichtungen es kennen.
Denn nur dann werden die Beraterinnen eingeladen und können helfen. "Wenn die jungen Leute etwa 16 sind, geht es ja in den Hilfeplangesprächen schon darum, wie es nach dem Auszug weitergeht", weiß Antje Müller.
Was ist ein Hilfeplan? Hilfeplan bezeichnet ein Instrument zur Steuerung der Jugendhilfe im Einzelfall, das gemäß § 36 SGB VIII gesetzlich geregelt wird. Der Hilfeplan dient der Koordinierung aller an der Hilfe Beteiligten und ist somit als deren Grundlage anzusehen. Er wird seitens des Jugendamtes in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten erstellt (Hilfeplanverfahren).
Die meisten Jugendlichen verlassen die Jugendhilfe mit 18 Jahren. Ein großes Problem dabei: Aufgrund vieler Belastungen und Traumata in ihrer Lebensgeschichte sind diese Kinder und Jugendlichen dann oft noch nicht mit der Schule fertig, von einer Ausbildung ganz zu schweigen.
Der Careleaver e.V., ein bundesweit agierender Verein, den die jungen Menschen selbst gegründet haben, setzt sich schon länger dafür ein, dass die betroffenen Jugendlichen bis zum Abschluss der ersten Ausbildung in ihren Wohngruppen oder Pflegefamilien bleiben können.
Gesetzgeber hat nachgebessert
Die Reformen im SGB VIII durch das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) haben die grundsätzliche Benachteiligung gegenüber gleichaltrigen jungen Erwachsenen und die häufig prekären Lebenslagen von Careleavern anerkannt. Theoretisch ist es demnach jetzt so, dass die jungen Menschen bis zum 21. Lebensjahr einen Anspruch auf Hilfe haben.
"Aber es ist leider so, dass das in Thüringen selten gewährt wird", sagt Antje Müller. "Es ist noch nicht lange her, dass diese Änderung gilt und das, was sich über 30 Jahre lang in den Köpfen eingeschliffen hat, kann nicht innerhalb von zwei Jahren über den Haufen geworfen werden."
Es ist leider immer noch oft so, dass es darauf ankommt, welchen Bearbeiter habe ich? Welches Jugendamt ist für mich zuständig?
Dazu kommt, dass das auch Geld kostet und dass es dann auch mehr Plätze in der Jugendhilfe bräuchte, weil ja immer wieder neue Klienten nachkommen. Und ihre Kollegin Antje Krone ergänzt: "Es ist leider immer noch oft so, dass es darauf ankommt, welchen Bearbeiter habe ich? Welches Jugendamt ist für mich zuständig? Und man muss sozusagen das Glück haben, eine Person zu finden, die einem gewogen ist. Und das sollte es aus unserer Sicht nicht sein."
Bereitschaft zur Unterstützung ist da
In Caros Fall hat alles funktioniert, aber sie ist auch eine Ausnahme, denn nur wenige Kinder aus der Jugendhilfe studieren. Sie empfindet das als ein Privileg, erzählt, dass sie sich immer sehr unterstützt gefühlt hat.
Eine besondere Rolle dabei spielte ihre Bezugserzieherin: "Die ist speziell für zwei Kinder zuständig. Sie begleitet mich zu Ämtern, wir gehen zusammen shoppen, besprechen den Hilfeplan. Auch über Privates kann ich mit ihr sprechen. Sie ist zum Beispiel auch mitgegangen, als ich mein erstes Piercing wollte. Das vergisst man nicht. Das ist schon ein Mama-Ersatz."
Und tatsächlich beobachten die Mitarbeiterinnen des Careleaver-Zentrums die meisten Träger und auch die meisten Jugendämter als aufgeschlossen gegenüber den Problemen. "Was wir merken, ist, dass es oft an der Information um die gesetzlichen Grundlagen mangelt", sagt Antje Müller.
"Informationen müssen in die Politik und in die Verwaltungen"
Deshalb bietet das Careleaver-Zentrum auch Weiterbildungen für Fachkräfte zu diesen Themen an. Rechtsanwälte und Psychologen gehören zu den Referenten. "Wir merken, dass in den vergangenen zwei Jahren auf jeden Fall schon Veränderungen stattfinden. Aber nicht jede Kommune ist gleich."
Laut Gesetzgeber sei die Notwendigkeit zwar da und das Recht auf der Seite der jungen Leute, sagt sie. "Aber das hat ja auch was mit Einstellungen zu tun von jedem Einzelnen, jeder Einzelnen, der oder die daran beteiligt ist."
Und so beobachtet sie, dass in den Hilfeplangesprächen nach wie vor darauf hingewirkt wird, dass die jungen Menschen möglichst schnell finanziell unabhängig sind, dass möglichst viele von ihnen mit 18 Jahren ausziehen. Zum Vergleich: Das Durchschnittsalter, in dem junge Menschen üblicherweise bei ihrer Familie ausziehen, liegt laut Antje Müller aktuell bei 24 bis 26 Jahren.
Für Antje Krone ist dabei besonders ungerecht, "dass nicht danach geguckt wird, was kann denn der junge Mensch, was möchte er? Wohin soll es gehen? Was sind die Träume und Vorstellungen davon, was ich später mal in meinem Leben haben möchte, außer vielleicht eine eigene Familie?"
Deshalb besteht ein großer Teil ihrer Arbeit auch darin, bei den Jugendämtern, in der Politik und in Verwaltungen das Verständnis zu wecken, die Bereitschaft, Hilfe auch nach dem 18. Geburtstag zu bewilligen.
Beratung und Vernetzung für junge Menschen
Für die eigentlichen Careleaver gibt es auch verschiedene Workshops. Um den Umgang mit Geld geht es da, um Mietverträge oder Berufsberatung. Die Themen bestimmen die Jugendlichen selbst. Es geht um Informationen, aber auch um Kontakte und den Aufbau langfristiger Beziehungen. Denn die Careleaver können eben nicht "einfach mal schnell den Eltern schreiben oder sie anrufen", so Antje Müller.
Zum Aufklappen: Ziel ist die Chancengleichheit für Careleaver
- eine bessere Unterstützung von (jungen) Careleavern
- deren soziale und berufliche Integration sowie die Erhöhung ihrer Bildungschancen und –erfolge
- deren gelungene soziale Vernetzung
- die Qualifizierung und Stärkung von Careleavern und deren Betreuenden
- die Förderung der Interessenvertretung und politischen Einflussnahme von Careleavern
- die Sensibilisierung der (Fach-) Öffentlichkeit für die Belange der Careleaver
Quelle: Careleaver-Zentrum Thüringen
Für Caro ist eins völlig klar: "Man bekommt nichts auf einem Silbertablett serviert. Man muss sich schon selber kümmern. Aber für mich ist es wichtig zu wissen, ich habe halt immer mal jemanden. Die Leute vom Careleaver-Zentrum haben mich auf dem Schirm, die würden mich immer unterstützen, wenn ich ein Problem habe. Die wissen auch, wo ich mich hinwenden kann, was dann auch noch einmal enorm Druck nimmt oder Ängste."
Die Leute vom Careleaver-Zentrum haben mich auf dem Schirm, die würden mich immer unterstützen.
Und auch wenn ihr der bevorstehende Neuanfang immer noch ein bisschen Angst macht, freut sie sich auch darauf. Denn schließlich ist sie inzwischen erwachsen.
MDR (gh)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 29. Mai 2023 | 18:00 Uhr
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