Sandy Kirchner
Seit mehr als sechs Jahren arbeitet Diplom-Pädagogin Sandy Kirchner schon in der stationären Jugendhilfe. Und sie kann sich nichts anderes vorstellen. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Corona Warum die Jugendhilfe in der Pandemie vergessen wird

06. März 2021, 17:03 Uhr

In ganz Deutschland gibt es fast 37.000 Einrichtungen der stationären Jugendhilfe. In Thüringen agieren aktuell 179 Träger im Bereich der teilstationären und stationären Jugendhilfe mit 200 Haupteinrichtungen und 641 Untereinrichtungen. Sie geben auch während der Corona-Pandemie Kindern und Jugendlichen ein Zuhause und schaffen Zukunftsperspektiven. Und das ist schon ohne Corona nicht einfach.

Autorenbild Grit Hasselmann
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Das klassische "Kinderheim" heißt heute "Wohngruppe“. Hier wohnen Kinder und Jugendliche, die in ihrer Kindheit schwere Schicksalsschläge verkraften mussten, oder bei denen eine liebevolle Atmosphäre zwischen Eltern und Kind zur Zeit nicht gewährleistet werden kann. Ein anderer Grund für die Unterbringung eines Kindes in einer Wohngruppe kann auch die psychische Erkrankung der Eltern oder des Kindes selbst sein.

Wenn ambulante Hilfe nicht genügt

Sandy Kirchner leitet eine Mutter-Vater-Kind-Wohngruppe. Das ist eine Einrichtung der stationären Jugendhilfe, in der vor allem die jungen Väter oder Mütter betreut werden, ihre Kinder sind aber dabei. Der jüngste Bewohner ist gerade vier Monate alt. Insgesamt leben hier derzeit acht Familien mit insgesamt elf Kindern. Sandy Kirchner: "Das sind Familien, die so viel Unterstützung brauchen, dass die ambulante Hilfe des Jugendamts nicht reicht."

Das sind Familien, die so viel Unterstützung brauchen, dass die ambulante Hilfe des Jugendamts nicht reicht.

Sandy Kirchner Diplom-Pädagogin

Es sind Menschen, die sozialpädagogisch betreut werden, es gibt Kinderschutzfälle, aber auch Frauen, die aus gewaltsamen Beziehungen geflohen sind. Aber auch junge Schwangere werden aufgenommen. "Das hat dazu geführt, dass ich jetzt schon bei mehreren Geburten als Unterstützung dabei war. Das war eine schöne Erfahrung." erzählt die Sozialpädagogin.

Die Kinder und Jugendlichen akzeptieren, wie sie sind

Luisa N. arbeitet auch in einer Wohngruppe. Sie erzählt: "Was die Kinder, die bei uns leben, schon durchgemacht haben, ist für viele Menschen unvorstellbar. Das sind Jahre, vollgepackt mit Traumata, von denen sie ihr ganzes Leben nicht ganz heilen werden. Aber wenn ich eins der Kinder ansehe, sehe ich nicht diese Geschichte, sondern die Kraft, die sie haben, dass sie trotzdem weiter machen. Und alles Verhalten, was wir als problematisch sehen, ist im Prinzip nur ein Schutzmechanismus, den sie entwickelt haben um genau das zu schaffen. Wir müssen ihnen also zeigen: du brauchst das nicht mehr, es geht auch anders."

'Heimkind' ist aber auch eine Schublade, in die sie gesteckt werden, manche Menschen wollen damit einfach nichts zu tun haben.

Luisa N. Sozialpädagogin

Auch Sandy stellt immer wieder fest, dass die Kinder, wenn sie erstmal in der Jugendhilfe angekommen sind, eine gute Perspektive haben. Und dennoch haben auch ihre Schützlinge immer wieder mit Vorurteilen zu kämpfen.

Corona verschärft Probleme

Wegen Corona sind jetzt alle 24 Stunden am Tag zu Hause. Mit strengem Hygienkonzept, versteht sich. Natürlich ändert das die Abläufe im Haus total. Allerdings wurde manches auch leichter.

Laut Sandy Kirchner hat die Gruppe gerade im ersten Lockdow sehr profitiert. Ohne Einflüsse von außen konnte man eine stabile Tagesstruktur finden, hat gemeinsam gekocht und gegessen und jeden Abend in der Gruppe über den Tag gesprochen. "Wir waren sehr nah dran. Dinge, die unsere Pädagogen morgens angefangen haben, konnten wir bis abends begleiten." Denn die Teams waren anders aufgeteilt worden als sonst. In so genannten Tandems arbeiteten immer die zwei gleichen Kollegen von früh bis abends in der Gruppe.

Probleme potenzieren sich in der Wohngruppe

Aber natürlich gab es auch sehr viele Probleme. Die digitale Umsetzung der Schulaufgaben ist beispielsweise nur begrenzt möglich. Die Taschengelder reichen meist nicht aus, um sich einen eigenen Laptop leisten zu können. Der eine Gruppenlaptop muss somit von allen geteilt werden. Und in Sachen Homeschooling brauchen die Kinder Jugendlichen nun wesentlich mehr Unterstützung.

Schulsachen auf einem Tisch
Auch das Homeschooling muss hier für wesentlich mehr Menschen organisiert werden. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Luisa N.: "Seit einem Jahr betreuen wir die Kinder jetzt schon 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Klar, dass wir so alle Überstunden machen. Mehr Personal einstellen könnten wir deshalb trotzdem nicht, denn gerade kleinere Träger haben inzwischen auch finanzielle Probleme." Und auch im Fall einer Infektion gibt es einen wichtigen Unterschied: Anders als Schulen und Kindergärten können die Wohngruppen nicht schließen und die Bewohner nach Hause schicken. Denn die sind ja hier zu Hause. Sandy Kirchner: "Wir machen zu, schotten uns ab und halten den Laden am Laufen."

Auch Privatleben eingeschränkt

Das führt dazu, dass die Betreuerinnen und Betreur sich auch privat extrem einschränken. Sandy Kirchner: "Unsere Betreuten sitzen in der Einrichtung fest. Da kann ich ja nicht nach dem Dienst jede Menge Leute treffen und hier und da hin fahren. Da ist das Risiko einfach zu groß, dass ich eine Infektion in die Einrichtung trage. In dieser Situation müssen wir halt alle zusammenstehen und dann muss ich mich eben aus Solidarität auch einschränken."

Diese Erfahrung macht auch Luisa N.: "Hier leben neun Kinder zusammen und, auf begrenzte Zeit, sieben Fachkräfte. Wir sind einem extremen Risiko ausgesetzt, durch alle Kontakte die wir so haben. Das nehmen wir in Kauf, weil wir uns ja schließlich weiter um unsere Kinder kümmern müssen. Aber dass nichts unternommen wird, um uns zu schützen, nach allem was wir gerade leisten, ist frustrierend."

Stationäre Jugendhilfe wird regelmäßig vergessen

Denn wenn es um Schutz und Unterstützung geht, wird die stationäre Jugendhilfe allzuoft vergessen. Und das auch ohne Corona. Die Berechnung des Finan zbedarfs stammt beispielsweise aus dem Jahr 2010. Aus dem Thüringer Bildungsministerium heißt es dazu: "Die Betreuten erhalten pro Monat einen Barbetrag (Taschengeld) zur persönlichen Verfügung, der nach Alter gestaffelt ist.

Der monatliche Betrag für Bekleidung und Schuhe ist in der aus dem Jahr 2010 in Kraft getretenen Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände für den Bereich Soziales, Jugend und Gesundheit geregelt und beträgt für Hilfeempfänger bis 12 Jahre 33 Euro monatlich, ab 13 Jahre 42 Euro. Die Höhe des Verpflegungsgeldes variiert derzeit zwischen fünf und sieben Euro pro Betreuungstag und Platz."

Regelungen eher auf Familien ausgelegt

Da für die Betroffenen aber kein Anspruch auf Bildung und Teilhabe besteht, geht davon noch das Essensgeld für Kita oder Schule ab. Auch die Mittel für Schulmaterial oder die Freizeitgestaltung sind begrenzt. Und gleichzeitig ist es schwer, überhaupt passende Angebote für die Gruppe zu finden.

Ein gedeckter Frühstückstisch
Ein Zuhause, wenn auch keine Familie - das sind die Wohngruppen. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Von Ferienwohnungen haben sie schon Absagen bekommen, weil Jugendgruppen dort nicht erlaubt sind, dabei sind sie das ja eigentlich gar nicht. Egal ob in der Schule, beim Arzt oder in der Freizeit, es ist alles auf Familien ausgelegt, auf leibliche Kinder, erzählt Luisa N.. "Familienkarten im Zoo oder im Schwimmbad bekommen wir zum Beispiel nur, wenn die Verkäuferin ein Auge zudrückt, denn dort ist oft vermerkt, dass diese eben nur für Eltern und eigene Kinder gilt. Das sind wir nicht, aber die Ermäßigungen brauchen wir mindestens genau so sehr, denn mit dem Geld was wir zur Verfügung haben, sind große Unternehmungen nicht so häufig möglich."

Wertschätzung für wichtige Aufgabe

Dass von der Jugendhilfe keine Rede war, als Beschäftigte in Schulen und Kitas ihre Impfberechtigung bekamen, dass der gesamte Bereich immer wieder "vergessen" wird, kritisiert auch Kathrin Vitzthum von der GEW Thüringen: "Dabei leisten die Mitarbeiter:innen in diesen Einrichtungen großartige Arbeit und fangen die Menschen auf, die durch die unzähligen Maschen unserer Bildungs- und Unterstützungssysteme fallen."

Denn auch wenn die Wohngruppen keine Familie sind, bieten sie einen sicheren Hafen. Sie können also im besten Falle ein Gefühl von "Zuhause" vermitteln. Die Betreuerinnen und Betreuer haben ein Auge dafür, was jedes einzelne Kind für eine individuelle Förderung und Struktur braucht. Dies ist ein großer Schritt in eine eigenverantwortliche Zukunft. Und Sandy Kirchner und Luisa N. können sich beide keinen anderen Beruf vorstellen. Egal, ob während oder nach Corona.

Quelle: MDR THÜRINGEN

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 06. März 2021 | 18:00 Uhr

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