Neue Richtlinien Alltag von Kindern und Jugendlichen im Heim soll verbessert werden

02. April 2023, 17:36 Uhr

2021 hat der Bundestag das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz verabschiedet, das jungen Menschen helfen soll, die benachteiligt sind. Zugleich sollen in Sachsen-Anhalt die Heimrichtlinien angepasst werden. Damit sollen die Rechte junger Menschen, die Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen, gestärkt werden. Einer von ihnen ist Justin – der 17-Jährige lebt freiwillig in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe in Halle. Einblicke in seinen Alltag.

Es fühlt sich nach Frühling an in der Jugendwohngruppe des Sankt Georgen Vereins in Halle. Passend zum sonnigen Wetter, strömt sanfte Gitarrenmusik durch ein offenes Fenster im dritten Stock. Da oben, auf seinem Bett, sitzt Justin mit seinem Betreuer und übt.

Der 17-Jährige lebt seit zwei Jahren in dem betreuten Wohnen in einer von vier WG's. Er hat sich damals freiwillig aus seiner Pflegefamilie vom Jugendamt herausholen und in Obhut nehmen lassen, erzählt er MDR SACHSEN-ANHALT.

In der Landwirtschaft bei seinen Pflegeeltern habe er täglich vor und nach der Schule mitarbeiten müssen. "Ich hab' meine ehrliche Meinung gesagt, dass es mir nicht passt, wie ich hier arbeite und meine Freizeit haben möchte. So ist das dann immer mehr in Streit ausgeartet", erzählt er in Kurzform. Laut Justin war der Schritt ins "Heim" die richtige Entscheidung, denn hier fühlt er sich wohl.

Neue Gesetze sollen Kinder und Jugendliche stärken

Wohlfühlen ist ein gutes Stichwort: Genau da soll sich bald für ihn und die knapp 4.500 anderen Kinder und Jugendlichen in Heimen in Sachsen-Anhalt etwas verändern bzw. sogar verbessern.

Denn 2021 hat der Bundestag das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, kurz KJSG, verabschiedet. Es soll die Rechte von jungen Menschen stärken, die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen. Gestärkt werden sollen unter anderem die Beteiligungsrechte, selbstorganisierte Zusammenschlüsse, also Selbstvertretungen, es soll mehr Inklusion geben und eine gesunde und altersgerechte Ernährung.

Jetzt sind die Länder wie Sachsen-Anhalt am Zug und sollen das Gesetz auch auf Länderebene anpassen. Das Sozialministerium schreibt dazu auf Nachfrage von MDR SACHSEN-ANHALT, dass der "Gesetzentwurf derzeit abgestimmt wird, sodass die Kabinettsvorlage zeitnah dem Kabinett zur ersten Befassung vorgelegt werden wird."

Auch "Heimrichtlinien" werden angepasst

Und noch etwas wird angepasst: die sogenannten "Heimrichtlinien" in Sachsen-Anhalt. Diese sind wie Handlungsanweisungen für die Träger, die Heime betreiben. Zwar steht die Veränderung dieser nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Gesetzesänderung des Bundes, so das Sozialministerium, dennoch war sie dringend notwendig.

Das sagt zumindest die Partei "Die Linke", denn die Richtlinien waren das letzte Mal 1996 bearbeitet worden. Laut der Linken hat Sachsen-Anhalt damit die älteste Richtlinie in ganz Deutschland. Im September 2022 hatte die Fraktion im Landtag deshalb zu einer Novellierung aufgerufen, damit die Richtlinien den aktuellen Lebenswelten angepasst werden. Anfang 2023 gab es dann das "Go" vom Land. Und auch hier geht es wieder um Punkte wie Beschwerderechte, mehr Mitbestimmung, neue Medien und gesunde Ernährung.

Wohngruppe in Halle braucht keine Novellierung

Doch was heißt das jetzt konkret für Justin und seine elf Mitbewohner und Mitbewohnerinnen in der Jugendgruppe? Laut Steffen Busch, Leiter der Jugendwohngruppe Sankt Georgen e.V., wird sich theoretisch im Alltag der Jugendlichen bei ihm nicht allzu viel ändern. Er sagt MDR SACHSEN-ANHALT: "Wir setzen eigentlich schon ganz viel um, weil wir all das schon in unserem Gesamtkonzept der Einrichtung haben. Punkte wie gesunde Ernährung, Partizipation oder Beschwerdemanagement, die nehmen wir sehr ernst."

Dazu brauche ich kein neues Gesetz, sondern es ist bei uns gelebte Lebenspraxis.

Steffen Busch Leiter der Jugendwohngruppe, Sankt Georgen e.V

Ein Beispiel: Busch erzählt, dass gesunde Ernährung in ihrer Einrichtung ein großes Thema ist. So werde darauf geachtet, dass nicht nur Cola und Süßigkeiten im Einkaufskorb der Jugendlichen landen, sondern auch Äpfel. Zum Frühstück gibt es keine Cornflakes, sondern Müsli. "Das würde ich ja bei mir in der Familie privat beziehungsweise würden es meine Kollegen für sich selbst auch machen. Dazu brauche ich kein neues Gesetz, sondern es ist bei uns gelebte Lebenspraxis", sagt der Leiter.

Busch ist davon überzeugt, dass die Heimrichtlinien eine Orientierung bieten, er brauche all das aber nicht schriftlich, um zu entscheiden, wie er mit seinen Klienten umzugehen habe. "Änderungen machen Sinn", sagt er, "aber Änderungen um des Änderungswillens, die sind aus meiner Sicht nicht notwendig. Das hindert eher."

Kind im Blick

Zweifarbige Grafik Kind vor geöffnetem Fenster
Bildrechte: MDR/Lisa Hentschel
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Mitgestalten und Probleme loswerden sind Selbstverständlichkeit

Zurück in Justins Zimmer. An der Wand ist mit Bleistift ein Logo der Band Rolling Stones aufgemalt. Entstanden ist es während der Corona-Zeit. Fertig sei sein Werk aber noch nicht, sagt Justin. Auch einige Stockwerke tiefer – im gemeinschaftlichen Fernsehraum – hat er die Wand mit angestrichen, erzählt er stolz. Dass die Jugendlichen hier im Alltag mitmachen und mitbestimmen können, ist nicht zu übersehen.

Auch in puncto Beschwerden gibt es wöchentliche Versammlungen, in denen die Jugendlichen ihre Probleme ansprechen können. "Was einem nicht gefällt, kann man dann auf den Tisch hauen,", sagt der 17-Jährige. Oder sie werfen ihre Anliegen anonym in den Beschwerdebriefkasten.

Doch Justin würde sich manchmal wünschen, dass man sich auch mal an jemanden wenden kann, der nicht aus dem Heim kommt. Er erklärt: "Ich finde es schon wichtig, dass man noch jemand anderen hat, mit dem man reden kann, was man nicht unbedingt mit dem Betreuer bereden möchte."

Ombudsstellen als Beschwerde- und Beratungsstelle

Für genau diesen Fall gibt es in Sachsen-Anhalt ein erstes Modellprojekt. Seit 2020 läuft so in Sachsen-Anhalt das Projekt Ombud LSA. Da sich laut der Novellierung des KJSG und der Heimrichtlinien die Beschwerderechte verbessern sollen, sind die Länder verpflichtet, diese sogenannten Ombudsstellen einzurichten – also Orte, an denen Beschwerden und Probleme geschlichtet werden sollen.

Menschen können sich an uns wenden und haben nochmal einen Ansprechpartner von außen, der sich die Situation anschauen und auch ergänzen kann.

Martin Blasche Berater Ombudsstelle LSA

Martin Blasche ist einer von drei Beratern in der Ombudsstelle. Er sagt MDR SACHSEN-ANHALT: "Menschen können sich an uns wenden und haben nochmal einen Ansprechpartner von außen, der sich die Situation anschauen und auch ergänzen kann." Die Stelle soll so ein Machtungleichgewicht zwischen den Jugendlichen und Wohngruppen, Jugendamt und Pflegefamilien ausgleichen und diese stärken, ergänzt er.

Doch noch fehlt der gesetzliche Rahmen auf Länderebene. Dieser folgt erst mit der neuen Gesetzgebung. So lange bleibt es beim Modellprojekt. Dann, so Blasche, werden auch Stellen ausgeschrieben.

Zu spät für Justin

Für Justin kommt das allerdings alles zu spät. Nicht nur, weil er seine Probleme mit seiner Pflegefamilie anderweitig geregelt hat, sondern auch weil er im Sommer aus St. Georgen auszieht. Dann ist er volljährig, zieht in seine erste eigene Wohnung und beginnt eine Ausbildung zum Bestatter.

"Eigentlich freu' ich mich ganz dolle darauf, mal alleine zu leben und mein eigener Herr zu sein, aber irgendwo habe ich auch ein bisschen Angst, dass das richtig nach hinten losgehen kann", sagt er.

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MDR (Maximilian Fürstenberg)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 02. April 2023 | 19:00 Uhr

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