Wütende Patienten, ausgebranntes Personal Wie Thüringer Hausärzte die vierte Corona-Welle erleben

17. November 2021, 05:00 Uhr

Nicht nur die Situation auf den Intensivstationen hat sich in den vergangenen Wochen dramatisch verschärft, auch Hausärzte arbeiten an ihrer Belastungsgrenze. Die Infekt-Sprechstunden sind überlaufen, immer mehr Menschen wollen sich nun doch impfen oder aber boostern lassen. Nebenher müssen Hausbesuche und die Versorgung der Alten und chronisch Kranken gewährleistet werden. Ein Besuch bei Hausarzt Ulf Zitterbart in Kranichfeld.

"Gestern haben wir den 61. Hochzeitstag gehabt", sagt Annemarie Böber stolz. Heiraten im November? "Ja, in der DDR dufte man erst Hochzeit feiern, wenn die Kartoffelernte eingeholt war, deswegen haben wir im November geheiratet", erzählt die 84-Jährige. Die ehemalige Bäuerin lebt mit ihrem Mann Kurt in Kranichfeld im Weimarer Land. Sie freut sich sichtlich über den Besuch von Ulf Zitterbart und ist zum Schwatzen aufgelegt.

Die Böbers kommen seit 2005 in seine Sprechstunde, doch diese findet inzwischen immer öfter als Hausbesuch statt. Alle vier bis sechs Wochen schaut der Doktor vorbei. Meist stehen nur Routineuntersuchungen auf dem Plan, doch heute kommt Zitterbart zum Impfen. "Das ist unsere dritte Corona-Impfung. Wir haben eine große Familie und oft Kinder zu Besuch, da hielten wir das für angebracht", erzählt Frau Böber.

Hausbesuche - der blinde Fleck der Impfstatistik

In normalen Zeiten sind Hausbesuche eine nette Abwechslung. In der Corona-Pandemie waren sie gerade in der ersten und zweiten Welle eine Grenzerfahrung: "Wir haben Hausbesuche bei Covid-19-Erkrankten in Vollschutz gemacht, weil wir ja sonst komplett ungeschützt waren. Wir hatten ja noch keinen Impfstoff", erinnert sich Zitterbart. Mit dem Impfstoff hat sich das weitgehend geändert. Jetzt könnten Hausbesuche sogar ein wichtiges Mittel sein, um die Impfkampagne auch auf dem Land voranzubringen.

Noch immer sind viele Menschen in ländlichen Gebieten ungeimpft, was im Flächenland Thüringen zu einer insgesamt niedrigen Impfquote führt. MDR THÜRINGEN sind Fälle bekannt, in denen alte Menschen auf dem Land ungeimpft bleiben, weil der Hausbesuch ausbleibt oder der Hausarzt keine Impfung vornimmt (etwa ein Drittel der Thüringer Hausärzte impft laut Zahlen der KVT und des Hausärzteverbands nicht).

Möglicherweise sind das Einzelfälle, doch sichere Erkenntnisse dazu gibt es nicht. Denn Hausbesuche sind ein blinder Fleck der Impfstatistik. Sie werden zwar extra abgerechnet, fließen aber als "Impfung bei niedergelassenen Ärzten" in die offiziellen Zahlen ein.

Schon wieder im Dauerstress

Dass Ulf Zitterbart überhaupt noch Hausbesuche anbietet, grenzt an ein Wunder. Nicht mal eine halbe Stunde hat der Besuch bei Böbers gedauert. Blutdruck, Blutzucker, Impfen, noch ein paar Scherze und warme Worte, dann packt Zitterbart schon wieder seine Arzttasche. Kaum aus dem Haus wirkt er wie ein Getriebener. Seine Praxis ist nur etwa 500 Meter die Straße runter, trotzdem schreitet er aus wie auf der Flucht. Er macht schnelle, große Schritte und huscht knapp vor einem heranfahrenden Auto über die Straße. Bloß keine Zeit verlieren.

Seit ein paar Wochen sind Zitterbart und sein Praxispersonal im Dauerstress. Laut Bedarfsplanung, versorgt ein Hausarzt 1.600 Patienten, von denen normalerweise 900 bis 1.000 pro Quartal in die Sprechstunde kommen. "In Corona-Zeiten sieht das ein bisschen anders aus, wir werden regelrecht erdrückt von Menschen, die einen Arzt brauchen", sagt Zitterbart. Es kämen sogar Patienten aus Erfurt oder Weimar, erzählt Laura Grossin, die als Arzthelferin seit 2015 bei Zitterbart arbeitet. "Es ist bombastisch viel mehr geworden", sagt die 26-Jährige.  

Zitterbart, der auch Vorsitzender des Thüringer Hausärzteverbands ist, gibt ein Beispiel: "In den zurückliegenden Sommermonaten kam fast nie jemand, um sich impfen zu lassen. Da waren es zehn, maximal 15 Impfungen pro Woche. Dagegen habe ich heute Vormittag allein schon 60 Impfungen gehabt." Ein Beispiel, an dem sich zwei Tatsachen ablesen lassen: Das exponentielle Wachstum der Infektionszahlen führt zu einer dramatisch höheren Nachfrage an medizinischer Versorgung; und die Politik hat noch immer nicht begriffen, dass es zu spät ist, neue Maßnahmen zu planen, wenn die Welle schon da ist.

Boostern mit halber Kraft

Besonders deutlich wird das beim Booster-Impfen: Ende Oktober forderte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass sich alle Menschen, die seit sechs Monaten als voll geimpft gelten, eine dritte Auffrischungsimpfung holen dürften. Es folgte ein Streit mit den Ärzteverbänden.

Am 3. November zurrte Spahn diese Entscheidung schließlich fest. Um das Boostern zu beschleunigen, kündigte er weitere Maßnahmen an: Seit dem 16. November erhalten Hausärzte pro Impfung ein Vergütung in Höhe von 28 statt 20 Euro wie bisher. Ab dem 23. November werden die Hausärzte alle sieben Tage mit Impfstoffen beliefert statt im Zwei-Wochen-Rhythmus, wie es derzeit gehandhabt wird.

"Den Ärzten ging es meiner Meinung nach nicht ums Geld, denn wir Mediziner arbeiten in erster Linie, um die Pandemie endlich loszuwerden. Wir haben das auch für 20 Euro gemacht, um einfach vorwärts zu kommen", sagt Zitterbart. Das Problem sei derzeit die Zwei-Wochen-Frist. Denn in Thüringen hat über den Sommer etwa die Hälfte der niedergelassenen Ärzte das Impfen eingestellt. Durch die zwei Wochen Bestellverzug können sie das Angebot jetzt nicht so einfach wiederaufnehmen. Deshalb boostern Thüringer Hausärzte seit zwei Wochen nur mit halber Kraft.

Das spiegelt sich auch in den Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen wider. Zu Spitzenzeiten impften etwa 1.100 niedergelassene Ärzte (davon rund 1.000 Hausärzte) gegen das Coronavirus. Vergangene Woche waren es 600, diese Woche sind es immerhin schon 850 - Tendenz steigend. Spätestens Ende November sollten die Thüringer Hausärzte dann mit voller Kraft impfen können.

Wütende Patienten, ausgebranntes Personal

Bedenklich ist die Lage aber auch beim Personal. "Wir hören immer nur aus den Krankenhäusern, dass da alle am Ende sind, aber in den Hausarztpraxen ist es genauso", sagt Zitterbart. Das werde an der Anzahl der Krankmeldungen deutlich. Auch Kündigungen habe es bei Hausarztpraxen schon gegeben. "Es ist extrem erschöpfend", sagt Zitterbart. Zu jeder Infekt-Sprechstunde stünden die Menschen in langen Schlangen vor der Praxis.

Schwester Laura Grossin bestätigt das: "Es ist deutlich mehr geworden und deutlich anstrengender: Man ist am Dauerarbeiten." Pausen fielen weg, ständig gehe das Telefon, die Nachbereitung sei kaum noch zu bewältigen und die Patienten seien frustriert und wütend. "Es kommt vor, dass manche hier lauthals rumschreien und uns Schwestern persönlich beleidigen", erzählt sie und wünscht sich mehr Geduld und Verständnis von den Patienten. "Es trifft uns Schwestern, obwohl die Leute wütend sind über die ständig wechselnden Maßnahmen, wo keiner mehr durchsieht."

In der Sprechstunde setzt sich diese Gemütslage dann fort. "Ich erlebe eine Skepsis gegenüber der Politik", sagt Zitterbart. "Es gibt eine Menge Menschen, die sich aus Trotz nicht impfen lassen wollen. Die sagen mir: Wenn die da oben das wollen, mache ich das noch lange nicht."

Was er dem entgegnet? "Nichts. Ich bin Arzt, ich berate nur, ich überzeuge nicht", sagt er.  

Quelle: MDR (ask)

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