Bildung Kopfnoten für alle Schüler: Wieso die Pläne der Landesregierung nicht nur auf Zustimmung stoßen
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25. Januar 2025, 07:23 Uhr
Wer in der DDR zur Schule ging, kennt Kopfnoten für Ordnung, Betragen, Mitarbeit und Fleiß. Inzwischen halten es die Bundesländer damit recht unterschiedlich. Die Thüringer Landesregierung will Kopfnoten für alle Klassenstufen einführen. Eine sinnvolle Idee?
Urteile über Verhalten und Mitarbeit
Wie fleißig sich Thüringer Schülerinnen und Schüler am Unterricht beteiligen, soll künftig in allen Klassenstufen auf dem Zeugnis stehen. Das plant die neue Thüringer Landesregierung aus CDU, BSW und SPD. Auch Mitarbeit, Betragen und Ordnung sollen bewertet werden - nicht als Zahl, sondern als Worturteil.
"Wir haben beschlossen, dass wir Kopfnoten in allen Jahrgängen wiederbringen", sagte Bildungsminister Christian Tischner (CDU), früher selbst Gymnasiallehrer für Geschichte und Sozialkunde, zum Jahresbeginn im MDR THÜRINGEN JOURNAL.
Wann und wie genau das Vorhaben im Schulalltag umgesetzt werden soll, ist noch offen. Aktuell werde an den Details des Bewertungsmodells gearbeitet, hieß es am Freitag aus dem Bildungsministerium. Noch sei der Arbeitsprozess nicht abgeschlossen.
Pädagogik-Experte bremst Erwartungen an Kopfnoten
Die Ausgestaltung dieses Vorhabens sei ganz entscheidend, sagt Professor Alexander Gröschner von der Universität Jena im Gespräch mit MDR THÜRINGEN. Er leitet das Team des Lehrstuhls für Schulpädagogik und Unterrichtsforschung und betrachtet Kopfnoten generell skeptisch. Er fragt: "Was will man damit eigentlich erreichen?"
Das Arbeits- und Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen werde sich nicht verbessern, weil auf einem Zeugnis plötzlich Bewertungen stehen, sagt Gröschner. Andere Methoden seien besser geeignet, um eine positive Entwicklung von Schülerinnen und Schülern zu fördern. Dazu zählt er Beratungen, Coaching-Angebote, Schülertagebücher und vor allem: Gespräche.
"Es gibt ja bereits Lernentwicklungsgespräche an den Schulen in Thüringen", sagt Gröschner. "Da können sich Lehrer, Schüler und Eltern viel differenzierter austauschen." Gemeinsam über Stärken und Schwächen reden, konkrete Ziele formulieren, Feedback einholen - dafür seien solche Gespräche ideal.
Verhalten in allen Fächern über Monate bewerten
Für Kopfnoten braucht es laut Professor Gröschner "ganz klare und transparente Indikatoren", um Bewertungen nachvollziehen zu können - wie kommen sie zustande, was sagen sie aus? Zudem müsse klar sein, wie die Schule die Kinder und Jugendlichen bei der Verbesserung unterstützen kann, sollten die Bewertungen schlecht ausfallen. "Man muss ihnen ja eine Entwicklungsperspektive eröffnen."
Eine Schwierigkeit: Mitarbeit und Verhalten von Schülerinnen und Schülern müssten über ein Halbjahr und mit Blick auf alle Fächer bewertet werden. "Wenn ein Schüler in einem Fach sehr engagiert ist und in einem anderen nicht - wie wird das dann bewertet?", fragt Gröschner. "Was bedeutet es, wenn sich ein Schüler immer meldet, aber vielleicht nicht immer Sinnvolles sagt? Und was bedeutet es für eher ruhige, zurückhaltende Schüler?"
Das Verhalten von Schülern sei stark von der einzelnen Situation abhängig - etwa vom Fach, vom Umfeld, von den Mitschülern. Würden Bewertungen auf dem Zeugnis erscheinen, könnten diese wie Charaktereigenschaften gelesen werden. Gröschner findet: "Ja, Schülerinnen und Schüler brauchen Rückmeldungen über ihr Verhalten. Aber nicht auf dem Zeugnis. Und schon gar nicht auf dem Abschlusszeugnis."
Plan der "Brombeer"-Regierung
"Mit Noten ab dem Ende der Schuleingangsphase wollen wir dafür sorgen, dass Schülerinnen und Schüler eine unmittelbare Rückmeldung über ihre Leistungen erhalten und eine bessere Vergleichbarkeit innerhalb des Klassenverbandes hergestellt wird.
Auch wollen wir dadurch Leistungsbereitschaft von Beginn an belohnen und Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, durch Reflexion aus eigenen Fehlern zu lernen.
In diesem Zusammenhang werden wir in allen Klassenstufen Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung in den Zeugnissen verpflichtend verbal bewerten, und zwar in den Rubriken Mitarbeit und Verhalten."
(Quelle: Regierungsvertrag 2024-2029)
Schülervertretung mit gemischten Gefühlen
Auf ein "transparentes und nachvollziehbares Bewertungssystem" pocht die Landesschülervertretung Thüringen hinsichtlich der Kopfnoten-Pläne. "Ein kritischer Punkt ist, dass verbale Bewertungen stark von der Wahrnehmung der Lehrkräfte abhängen", heißt es in einer Stellungnahme. "Allgemeine Aussagen wie 'engagiert', 'zurückhaltend' oder 'unaufmerksam' tragen wenig zur Weiterentwicklung der Schüler*innen bei."
Generell aber sei es eine gute Idee, Schülerinnen und Schüler "nicht nur anhand von Noten zu bewerten, sondern auch ihr Verhalten und ihre Mitarbeit zu berücksichtigen". Dieses Feedback müsse aber konstruktiv sein, wenn es bei der Weiterentwicklung helfen soll.
Landeslehrerverband offen für Kopfnoten
Der Thüringer Landeslehrerverband begrüßt den Vorschlag der neuen Landesregierung grundsätzlich. "Im Rahmen eines Worturteils können neben einer ausführlichen Einschätzung auch Entwicklungen aufgezeigt werden", sagt Landesvorsitzender Tim Reukauf. Dies lasse nicht nur für die Lernenden selbst wichtige Rückschlüsse zu, sondern auch für deren Erziehungsberechtigte.
Zugleich sieht der Landeslehrerverband im Finden und Fällen der Bewertungen eine Mehrbelastung - "zumindest für die Kolleginnen und Kollegen an den Schulformen, wo das bisher nicht üblich ist". Deshalb seien Entlastungen an anderer Stelle wichtig. "Eine gute Möglichkeit wäre die verbindliche Klassenleiterstunde, die genau für solche Aufgaben genutzt werden kann."
Aktuelle Schulordnung lässt Schulen Spielraum
Ähnlich kommentiert die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Thüringen die Pläne der Landesregierung. Dass Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern eine Einschätzung über das Sozialverhalten in der Schule bekommen, werde begrüßt. Allerdings sei dies "in vielen Schulen bereits oder immer noch gelebte Praxis".
Möglich macht das die aktuell geltenden Thüringer Schulordnung, herausgegeben von der vorigen rot-rot-grünen Landesregierung. Darin heißt es: "In den Klassenstufen 5 bis 8 sind Bewertungen zur Mitarbeit und zum Verhalten des Schülers [...] in das Zeugnis aufzunehmen." Diese Bewertung kann aber "auf Beschluss der Schulkonferenz in den Klassenstufen 7 und 8 entfallen".
Bildungspolitik in Deutschland
Bildung ist laut Grundgesetz Sache des Staates. Die konkrete Ausgestaltung übernehmen die Bundesländer, auch wenn der Bund in vielen Bereichen mitbestimmt.
Eine Rolle bei der Ausgestaltung spielen unter anderem kulturelle Traditionen, die Ländergröße und die parteipolitischen Ambitionen der amtierenden Landesregierung.
Die Vielfalt spiegelt sich in den Kopfnoten wider: Sachsen und Sachsen-Anhalt setzen auf Noten und verbale Einschätzung. Bayern und Nordrhein-Westfalen führten einst Kopfnoten ein, ruderten dann wieder zurück. Die Möglichkeit zur schriftlichen Bewertung von Mitarbeit und sozialem Verhalten ist aber generell gegeben.
Opposition kritisiert Plan der Regierung
Die Oppositionsparteien im Thüringer Landtag kritisieren die bisherigen Pläne der neuen Landesregierung. "Das von der Landesregierung im Koalitionsvertrag festgeschriebene Vorhaben kann nur als halbherzig bezeichnet werden, da die Bewertungen nicht in Form von Noten, sondern lediglich verbal erfolgen sollen", heißt es von der AfD-Fraktion.
Die Linke-Fraktion verweist darauf, dass "schon heute die Aspekte Betragen, Ordnung, Mitarbeit und Fleiß in die Epochalnoten einfließen, die seit Jahren Normalität sind". Die größte Herausforderung sei nach wie vor der Unterrichtsausfall.
Den Unterricht abzusichern, sei ein Hauptanliegen der "Brombeer"-Koalition, sagte Bildungsminister Tischner (CDU) bereits zum Jahresbeginn. Im 100-Tage-Programm der neuen Landesregierung steht das Thema Bildung jedenfalls an allererster Stelle. Die Kopfnoten tauchen nur im eigentlichen Koalitionsvertrag auf - als einer von vielen Punkten im Themenkomplex "Bildung, Wissenschaft und Innovation". Ein neues Gesetz sei dafür nicht nötig, heißt es aus dem Bildungsministerium. Es reiche eine Änderung der Schulordnung.
Kopfnoten kaum erforscht
Die wissenschaftliche Forschungslage zu Kopfnoten sei übrigens sehr dünn, sagt Professor Alexander Gröschner von der Universität Jena. Solche Bewertungen auf Zeugnissen würden immer wieder in manchen Bundesländern eingeführt, in anderen abgeschafft, in einigen wiedereingeführt.
Gibt es denn gute Erfahrungen mit Kopfnoten? "Es gibt kein Paradebeispiel dafür", sagt Gröschner. "Sie werden eher Schulen finden, die sagen: Lasst die Finger davon!"
MDR (mm)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 20. Januar 2025 | 11:00 Uhr
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