Wo liegt die Grenze zwischen Meinungsstreit und Pöbelei? Die Problemfälle bei User-Kommentaren
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09. Februar 2024, 09:31 Uhr
"Sie zensieren doch unliebsame Meinungen!" Klare Antwort: Nein, machen wir nicht. Schauen Sie sich Kommentare unter unseren Artikeln an, welch großes Spektrum an - auch sehr scharf formulierten - Meinungen es dort gibt. Aber tatsächlich veröffentlichen wir nicht jeden Ihrer Kommentare. Was das für Kommentare sind und warum sie etwa wegen zu harten Einsteigens oder falscher Fakten nicht erscheinen, beschreiben wir hier - und auch warum es viele Zweifelsfälle gibt.
Bis zu 90 Prozent der Artikel bei uns sind kommentierbar. Zu den Ausnahmen gehören vor allem aktuelle Unfälle und unklare Kriminalitätsgeschehen im frühen Stadium, die erfahrungsgemäß zu viele pietätlose bis justiziable Vermutungen und Kommentare auslösen.
Rund 15 Prozent und bis zu mehr als 20 Prozent der an uns geschickten Kommentare auf der Website und Social Media veröffentlichen wir nicht. Damit liegen wir im Vergleich zu bekannten Zahlen anderer Medien im Mittelfeld - auf dem gleichen Niveau wie die "New York Times", deutlich unter "CNN" (23 Prozent) und etwas über Blättern wie "Neue Zürcher Zeitung" (zehn Prozent) oder "Der Standard" aus Österreich (fünf Prozent). Bei Facebook mit einem hohen Anteil ganz kurzer Kommentare verbergen wir - bei einer sehr großen Spanne - mehr als zehn Prozent.
Widerspruch zur Meinungsfreiheit?
Nein, denn schon rein juristisch ist die Meinungsfreiheit im Artikel 5 des Grundgesetzes nicht absolut, sondern findet ihre "Schranken" in weiteren Gesetzen und in Gerichtsentscheidungen bei der Abwägung mit anderen konkurrierenden Grundrechten oder dem Persönlichkeitsrecht.
Was sagt das Bundesverfassungsgericht zu Meinungsfreiheit, Beleidigung und Ehrschutz?
Im Juni 2020 veröffentlichte das Gericht eine "Klarstellung zu verfassungsrechtlichen Maßgaben" dazu und eine ausführliche Beschreibung der Kriterien in einem besonders ausführlich begründeten Fall. Wir haben die Kernkriterien daraus hier zusammengefasst.
Nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt sind:
Schmähung: Kein nachvollziehbarer Bezug zur Sache oder Auseinandersetzung damit, sondern Diffamierung, Verächtlichmachen, Niedermachen der Person steht im Vordergrund.
Formalbeleidigung: Gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeiten; besonders krasse, aus sich heraus herabwürdigende Schimpfwörter, etwa aus der Fäkalsprache; das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts verlassend. Anstands- und Ehrvorstellungen nur eines Teils der Gesellschaft dürfen aber nicht allen aufgezwungen werden, auch eine unter Umständen beschränkte Ausdrucksfähigkeit ist in Rechnung zu stellen.
Verletzung der Menschenwürde: Äußerung, die sich nicht nur gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht (Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft abspricht und sie als minderwertiges Wesen behandelt)
Bei der weiteren Abwägung verweist das Gericht unter anderem auf folgende Kriterien:
Machtkritik ist besonders stark geschützt, also an der "Art und Weise der Machtausübung" - aber nicht Angriffe auf die Privatsphäre der Politiker sowie nur auf die Person abzielende Verächtlichmachung. Je höher Politiker in der Hierarchie stehen, desto mehr haben sie hinzunehmen, etwa im Vergleich zu einfachen "Amtswaltern". Umgekehrt lässt sich daraus ein höheres Schutzbedürfnis für Privatpersonen wie User ableiten.
Ist ein "allen Menschen zustehender Achtungsanspruch" betroffen oder nur das "unterschiedliche jeweilige soziale Ansehen einer Person"?
Geht es um einen Beitrag zur Meinungsbildung in einer die Öffentlichkeit berührenden Sache oder nur um emotionalisierende Stimmungen gegen einzelne Personen?
Schriftliche Äußerungen und solche mit großer Reichweite (wie eben im Internet) haben höheres Schadpotenzial und wiegen schwerer als mündliche Äußerungen beziehungsweise vor wenigen Beteiligten.
Meinungsfreiheit bedeutet etwa keine Freiheit, zur Gewalt gegen andere aufzurufen, andere herabzusetzen, verächtlich zu machen oder zu beleidigen. Wir unterliegen in diesem Punkt anders als Twitter oder Facebook nicht dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, müssen und mussten aber schon immer dessen zugrundeliegenden Gedanken umsetzen: Es dürfen keine strafbaren Inhalte von uns freigegeben werden, weil wir dann als Verbreiter mit belangt werden könnten. Unsere Kollegen von "BR quer" haben das auch mal in einem kleinen Video auf Facebook erklärt:
Außerdem bedeutet Meinungsfreiheit zunächst "nur", seine Meinung frei von Sanktionen und vom Staat unbestraft sagen zu können. Sie bedeutet kein Anrecht, sie in voller Länge an jedem selbstgewählten Ort zu veröffentlichen - so wie es kein Recht auf die Veröffentlichung eines Leserbriefs in der gewünschten Zeitungsausgabe gibt. Selbst in Parlamenten gibt es Regeln, die das Rederecht der Abgeordneten regeln und auch beschränken.
Störer machen sinnvolle Diskussion unmöglich
Wir sind mit unseren Diskussionsangeboten etwa in der Situation einer Gemeindeverwaltung, die bei einer Einwohnerversammlung über ein Problem oder ein Projekt diskutieren will. Diese Aufgabe ist nicht erfüllbar, wenn Störer pausenlos Themenfremdes dazwischenrufen, andere niederbrüllen oder ständig mit Provokationen belegen, selbst wenn sie formaljuristisch noch nicht strafbar sind. Diskussion wird so unmöglich, viele können ihre Meinung nicht sagen, werden eingeschüchtert, das Treffen kann seinen Zweck nicht erfüllen - wenn die Diskussionsleitung nicht von ihrem Hausrecht Gebrauch macht.
"Digitales Hausrecht"
Das auch in mehreren Gerichtsentscheidungen (nach dem Bundesgerichtshof 2021 nun Bundesverwaltungsgericht im November 2022) prinzipiell bestätigte "digitale Hausrecht" für Sanktionen auch unterhalb der Strafbarkeit, das auch wir ausüben, soll natürlich so fair wie möglich, so verhältnismäßig wie möglich und für alle Kommentarschreiber so gleichmäßig wie möglich gehandhabt werden. Dafür gibt es zunächst einmal die "Netiquette" des MDR. Ihr Geist ist eigentlich klar und sagt "sachlich und seriös diskutieren, niemanden persönlich angreifen, beim Thema bleiben". Das ist so allgemein leichter gesagt als im konkreten Fall entschieden. Deshalb zur Veranschaulichung hier mal einige anonymisierte Postings, die wir entweder nicht für den Kommentarbereich freigegeben oder auf unserer Facebook-Seite verborgen hatten, sodass sie nur noch der Postende und seine Freunde sehen können.
Beispielfälle
Zu jedem Posting finden Sie eine - manchmal ein bisschen spöttisch zugespitzte - Erklärung von uns für die Entscheidung (dieser Link oder direkt auf die Bildergalerie klicken).
Eine flapsige Übersetzung solcher Hausregeln hat einmal das Team von Watson geliefert, der wir uns im Grundgedanken einer zivilen und beidseitig toleranten Gesprächskultur anschließen.
Dauerproblem Fakten
Zu den schwierigsten Entscheidungen gehört die Abgrenzung zwischen Meinungen (geschützt) und Fakten, wobei falsche Faktenaussagen grundsätzlich keinen Schutz durch die Meinungsfreiheit haben. Allerdings weisen nicht nur Gerichte immer wieder darauf hin, dass der Schutz mit der Meinungshaltigkeit steigt. Über dieses "sowohl als auch" schreibt das Bundesverfassungsgericht fast schon flapsig: "Die Abgrenzung von Meinungsäußerungen und Tatsachenbehauptungen kann freilich schwierig sein."
Dazu kommt das Problem, falsche Fakten überhaupt als falsch zu erkennen beziehungsweise als wie falsch. "Gut" gemachte Fake News arbeiten mit Faktenteilen, die für sich noch nicht einmal falsch sein müssen, zitieren sie unvollständig, reißen sie aus dem Zusammenhang oder vergleichen Äpfel mit Birnen (etwa absolute Zahlen von verursachten Unfällen für aber deutlich unterschiedlich große Bevölkerungsgruppen). Natürlich können Sie selber mit Aufwand Fakten prüfen - umgekehrte Bildersuche im Netz, Faktencheck-Seiten zu bereits widerlegten Dingen - aber die wirksamsten Bremsen heißen: "Will ich das nicht eigentlich sowieso glauben" und "Bestätigt das nicht zu genau und platt (m)ein Vorurteil?"
Grenzfälle
Schwierige Fälle neben Pauschalisierungen wie "DIE Flüchtlinge", "DIE Ostdeutschen" oder "DIE xy-Wähler" sind vor allem beleidigende oder aggressive Ausdrücke. Es gibt für sie keine definierten Grenzwerte oder Din-Normen, ab wann ein Begriff nicht mehr einsetzbar ist. Zudem zeigen Gerichtsentscheidungen, dass es immer auch noch auf den jeweiligen Zusammenhang ankommt. Auch Umfragen geben kein eindeutiges Bild: Mehr als ein Drittel fand es noch akzeptabel, jemand öffentlich als "Dumm wie Dachpappe" oder "Der hat doch nicht alle Latten am Zaun" zu bezeichnen. Mehr zur unserer Praxis in diesem Interview.
Wie schwierig Meinungsäußerungen zu beurteilen sind, zeigen auch viele Gerichtsverfahren, in denen mehrere Berufsrichter in verschiedenen Instanzen über Monate und manchmal Jahre hinweg zu unterschiedlichen Beurteilungen kommen. Wir in der Redaktion müssen erheblich schneller entscheiden, teilweise bei Hunderten Kommentaren innerhalb einer Stunde.
Eine Schimpfwort-Abstimmung
Deshalb wollten wir von Ihnen wissen: Was stufen Sie als beleidigend ein, was weniger, was nicht? Wir hatten zehn mehr oder weniger heftige Begriffe auf den Laufsteg geschickt und um eine Bewertung dieser Kandidaten mit Noten von 1 ("veröffentlichen, das ist doch keine Beleidigung") bis 6 ("auf keinen Fall veröffentlichen, das Wort geht gar nicht") gebeten. Unsere User sollten sich dabei vorstellen, sie selber würden damit öffentlich von jemandem betitelt. Unser "digitales Hausrecht" soll schließlich auch dafür sorgen, dass Sie sich als Besucher in unserem Kommentarbereich nicht ständig Knüppel über die virtuellen Köpfe ziehen und sich nicht ständig bedroht und angegriffen fühlen. Gezielte Einschüchterung soll nicht die Meinungsfreiheit von Usern einschränken können.
- Am unbeliebtesten war "Gesindel" mit der Durchschnittsnote 4,3
- Dahinter folgen "Linksgrünversiffte" mit 4,1 und "Deutsche Dumpfbacken" mit 4,0
Mit etwas deutlicherem Abstand die weiteren Platzierungen:
- "verkackt" und "Hetzer" 3,1
- "Lusche" 2,9
- "Gutmenschen" und "zum Kotzen" 2,8
- "Saustall" 2,5
- "hirnrissig" 2,4
Bei einem Besuch kommentierender User im Funkhaus im Dezember 2023 gab es für weitere Kandidaten diese Noten:
- "Pöbler" und "Sie verbreiten Lügen" 3,9
- "blaubraun" 3,2 (von 1 bis 6 alles vertreten)
- "schwachsinniger Vorschlag" 3,1
- "bekloppter Vorschlag" 3,0
- "Sie und Ihre Kumpane" 2,9
Unsere Wünsche und Tipps
Am Ende unsere Wünsche: Seien Sie nicht schnell sehr empört und stellen dann Ihre Gegenüber gleich als extremistisch oder diskussionsunwürdig dar. Fürs Argumentieren ist es auch nicht nötig, ständig an oder über die Grenze der erlaubten Kaliber zu gehen und die Netiquette bis zum Anschlag auszureizen. Wenn Sie für eine Position werben wollen, geht das mit bloßen Beschuss des Gegenübers ohnehin schief. Machen Sie auf Schwächen der Gegenargumente aufmerksam, ohne dem Gegenüber die Daseinsberechtigung abzusprechen und kommen Sie dann mit Ihren Argumenten.
Wem es aber nur darauf ankommt, andere bloß persönlich anzugreifen, wird mit uns dauerhaft keine Freude haben. Klügere Menschen als wir haben festgestellt, dass "Toleranz" nicht akzeptieren und zustimmen bedeutet, sondern aushalten und erdulden. Das heißt auch: Widerspruch ist zulässig.
Zuverlässigster Check vor dem Abschicken eines Kommentars: "Könnte ich das auch gegen mich gerichtet einstecken."
Zum Schluss ein nicht ganz ernst zu nehmender Rausschmeißer unserer Kollegen von NDR extra3 - die Schule für Hasskommentare. ;-)
Quelle: MDR THÜRINGEN