Kommentar Verlorene Jahre für Thüringen: Worauf es in der Landespolitik jetzt ankommt
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21. Dezember 2023, 08:21 Uhr
Die rot-rot-grüne Minderheitsregierung hat mit Hilfe der CDU den letzten Landeshaushalt ihrer laufenden Regierungsperiode auf den Weg gebracht. Was folgt, ist Wahlkampf. Guido Fischer gibt mit seinem Kommentar einen Ausblick.
Es ist vollbracht. Mit dem Haushaltsbeschluss haben rot-rot-grüne Minderheitsregierung und CDU-Opposition in Thüringen das Wenige geschafft, was man von ihnen erwarten durfte. Auch für das letzte Jahr dieser in jeder Hinsicht turbulenten Legislaturperiode gibt es einen Haushalt. Mehr war für die Thüringerinnen und Thüringer nicht drin. Insgesamt waren die letzten viereinhalb Jahre verlorene Jahre für Thüringen. Zu viele Landespolitiker haben zu viele Fehler gemacht.
Das begann schon damit, dass sich Linke, SPD und Grüne - obwohl ihre Regierung abgewählt war - planlos in das Projekt "Minderheitsregierung" stürzten. Das scheiterte im ersten Anlauf krachend, als dank einer noch planloseren CDU und FDP mit Thomas Kemmerich der Chef der kleinsten Fraktion plötzlich Ministerpräsident wurde. Gewählt auch mit den Stimmen der AfD, die aber dadurch von Anfang an nicht Stabilität, sondern größtmögliches Chaos stiften wollte.
Egoismus wichtiger als politische Verantwortung
Wirkliche Lehren wurden daraus nicht gezogen. Mit viel Murren einigten sich CDU und Rot-Rot-Grün auf einen "Stabilitätspakt" und es wurden vorgezogene Neuwahlen vereinbart. Letztere wurden zunächst verschoben und dann gänzlich abgeblasen, weil einige Abgeordnete von Linken und CDU plötzlich kalte Füße bekamen. Egoismus schien im Thüringer Landtag in den Zeiten großer Krisen wie Corona und Krieg wichtiger zu sein als die Interessen des Landes.
Was folgte, waren zwei Jahre Polit-Gewurstel, bei dem außer den beschlossenen Haushalten nicht mehr viel Konstruktives zusammenkam. So gelang es trotz einer Gesetzesänderung nicht, eine Parlamentarische Kontrollkommission zu wählen. Auch die dringend nötige Klarstellung, wie Nein-Stimmen im dritten Wahlgang einer Ministerpräsidentenwahl zu werten sind, konnte nicht getroffen werden. Stattdessen stimmten alle Parteien auch mit der rechtsextremen AfD, um ihre jeweiligen Ziele durchzusetzen. Mit der Abstimmung zum Haushalt ist die Kompromissbereitschaft nun aufgebraucht. Ab sofort hat der Wahlkampf um einen politischen Neuanfang begonnen.
Rot-Rot-Grün ausgelaugt
Wie kann der nach der Landtagswahl in Thüringen am 1. September aussehen? Letztlich gibt es drei Möglichkeiten. Die erste wäre kein Neuanfang, sondern ein "Weiter so". Natürlich träumt vor allem die Linke von einer weiteren Runde Rot-Rot-Grün. Ganz abgesehen davon, dass eine Mehrheit für diese Konstellation im Moment ungefähr so realistisch scheint wie Neuschnee im Hochsommer, sind die Partner auch ausgelaugt. Die einstigen Architekten haben sich weitgehend verabschiedet oder stehen kurz davor.
Bei der SPD hat sich der größte Fan von Rot-Rot-Grün - der einstige Parteichef Andreas Bausewein - schon lange in seine Erfurter Komfortzone zurückgezogen. Bei den Grünen steigt nach Anja Siegesmund und Dirk Adams mit Fraktionschefin Astrid Rothe-Beinlich die letzte Gallionsfigur aus der Politik aus. Und die Linke? Nach Susanne Hennig-Wellsow sagt auch der neue Fraktionschef Steffen Dittes auf Wiedersehen. Bleibt weitgehend auf sich allein gestellt der nach wie vor beliebte Bodo Ramelow. Ihm dürfte es aber - auch aufgrund der bundespolitischen Schwindsucht seiner Partei - schwer fallen, an seine Rekordergebnisse von 2014 und 2019 anzuknüpfen.
AfD würde Land vor die Wand fahren
Als Kontrastprogramm zu Rot-Rot-Grün können sich offenbar viele Wählerinnen und Wähler einen Neuanfang mit der AfD vorstellen. Aber lässt sich mit Frustparolen und leeren Versprechungen Politik gestalten? Wohl kaum. So entpuppen sich die vollmundig angekündigten Massenabschiebungen über den Erfurter Flughafen rasch als Lügenmärchen des Rechtsextremisten Björn Höcke. Abschiebungen werden in Deutschland von der Bundespolizei abgewickelt. Die untersteht auch künftig nicht der Thüringer Landesregierung. Aus "Massen" werden so ganz schnell maximal 800 Ausreisepflichtige, die aus Thüringen abgeschoben werden können - ungefähr so viele wie Rot-Rot-Grün in den vergangenen drei Jahren abgeschoben hat.
Auch wenn eine absolute Mehrheit für die AfD wenig wahrscheinlich ist, könnte Höcke auch eine relative Mehrheit für den Einzug in die Staatskanzlei reichen. Im dritten Wahlgang sind in Thüringen bekanntlich Überraschungen nicht ausgeschlossen, wenn sich die anderen Parteien nicht im Vorfeld verständigen. Eine dann gewählte AfD-Minderheitsregierung wäre aber quasi handlungsunfähig. Undenkbar, dass sie Mehrheiten für einen Haushalt bekommt. Das Land würde vor die Wand gefahren.
Neuanfang muss aus demokratischer Mitte kommen
Ich meine daher: Ein konstruktiver Neuanfang für Thüringen kann nur aus der demokratischen Mitte kommen. CDU, SPD und FDP schließen ein Dreierbündnis unter Führung von CDU-Landeschef Mario Voigt nicht grundsätzlich aus. Dieses dürfte aber nach Lage der Dinge weit von einer eigenen Mehrheit entfernt sein - zumal ein Wiedereinzug der Liberalen ins Parlament mehr als fraglich ist. So wird es wohl erneut zu einer Minderheitsregierung kommen müssen.
Am Ende des Tages wird sich dieselbe Herausforderung stellen wie nach der Wahl 2019. Es muss zu einem Arrangement zwischen Linken und CDU kommen. Teile der Linken schließen als Ultima Ratio die Tolerierung einer CDU-geführten Minderheitsregierung nicht aus. Egal, ob es dazu kommt oder ob dann sogar ein Kompromisskandidat aus den Reihen der SPD Ministerpräsident wird - beides wäre besser als eine Neuauflage von Rot-Rot-Grün oder gar eine Regierung mit AfD-Beteiligung.
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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 20. Dezember 2023 | 19:00 Uhr