Fachkräftemangel Verzweifelt gesucht: Physiotherapeutinnen in Leipzig
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26. Januar 2023, 10:21 Uhr
Ein Königreich für eine neue Kollegin: So heißt es derzeit in Leipziger Physiotherapie-Praxen. Mitarbeiterinnen werden schon lange gesucht, aber nicht gefunden. Erschwert wird die Lage durch Wechselprämien im vierstelligen Bereich, die sich kleine Praxen nicht leisten können. Die Stammbelegschaft ist am Limit, wie MDR SACHSEN an zwei Beispielen in Leipzig zeigt.
- Praxen in Leipzig finden keine neuen Physios.
- Partientenzeit wird zum Speed-Dating.
- Uni-Ausbildung soll Situation entschärfen.
"Ich bin am Limit. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte", sagt Physiotherapeutin Sirid Heinrich. Die Inhaberin einer Leipziger Praxis ist am Ende ihrer Kräfte. Die Arbeitsbelastung infolge einer offenen Stelle belaste sie zusehends: "Man trägt ja seine Last auf seinen Schultern, und ich bin gerade meine beste Patientin". Ihre Aussagen stehen stellvertretend für eine Branche, die die offenen Stellen einfach nicht besetzt bekommt. Mit Folgen für Gemüt und Körper.
Zwei Bewerbungen seit Anfang 2022
Zwei Bewerbungen sind bei Sirid Heinrich für die offene Stelle in ihrer Praxis in der Südvorstadt bis jetzt eingegangen. Seit Anfang 2022, als eine Mitarbeiterin sie ohne Vorankündigung verließ und eine große Lücke riss, sucht sie einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin: "Wir haben es über das Arbeitsamt versucht, über Schulen, über unsere Website, auf Jobportalen, auf Social Media und über Mundpropaganda".
Die beiden eingegangenen Bewerbungen bezeichnet sie als "schwierig". "Da werden gleich Bedingungen gestellt, da fühlt man sich an die Wand gestellt. Es geht um die Bezahlung. Sie wollten 20 Euro pro Stunde, hatten aber noch gar keine gute Ausbildung. Da geht es um Arbeitszeiten und Arbeitsräume. Ich wollte mich mit ihnen in der Mitte treffen, aber keine Chance."
"Auch wir suchen händeringend"
Ähnliches weiß Manuela Blaschke zu berichten. Die Leipzigerin arbeitet seit 22 Jahren in diesem Beruf: "Auch wir suchen händeringend. Wie oft haben wir eine Kollegin oder einen Kollegen gefunden und uns gefreut. Und es war eine Katastrophe. Absolut kein Arbeitswille, kein Verständnis für den Job, stattdessen wurden Erwartungen gestellt. Und dann sind sie plötzlich wieder weg." Sie denkt, dass das mittlerweile "Alltag in den Praxen ist". Sirid Heinrich hält sich nun mit Praktikantinnen, die jeweils sieben Wochen bleiben, über Wasser.
Wechselprämien bis zu 3.000 Euro
Heinrichs einzige verbliebene Mitarbeiterin Nicole Fiedler erzählt von Wechselprämien, die mittlerweile in Stellenanzeigen offen erscheinen: "Da geht es um Summen von 1.000 bis 3.000 Euro, die für Zusagen bezahlt werden."
Speed-Dating mit dem Physiotherapeuten
Nicht nur wegen des Personalmangels sei die "Arbeitsbelastung deutlich größer geworden", so Nicole Fiedler: "Es geht immer mehr um die Quantität, weil die Kassen die Behandlungszeiten gekürzt haben". Der Durchschnitt für Krankengymnastik und manuelle Therapie betrage 15 bis 20 Minuten. Dann soll die Behandlung abgeschlossen sein. Und das inklusive Bürokratie: "Das ist halt der Wahnsinn: Befunde schreiben, Therapieberichte, die Abrechnungen - und das alles nebenbei noch. Das funktioniert nicht", findet sie.
Manuela Blaschke kann das bestätigen: "Wir verbringen viel mehr Zeit damit, Rezepte zu kontrollieren, zum ändern zu schicken. Machen wir das nicht, laufen wir Gefahr, dass unsere Arbeit nicht bezahlt wird." Ein ärgerlicher Faktor seien für sie "Ärzte, die sich weigern ein Rezept zu ändern. Sie sind der Meinung alles stimmt und es wäre unser Problem."
Freie Wochenenden führen in die Praxis
Bei Sirid Heinrich führt die Bürokratie dazu, dass die alleinerziehende Mutter an ihrem kindfreien Wochenende in die Praxis fährt und die liegengebliebene Bürokratie erledigt. Eine Woche Urlaub geht für jeweils eine von beiden nur, wenn ein Praktikant da ist, und die andere festangestellte Mitarbeiterin in der Zeit zwölf Stunden arbeitet.
Ihre personellen Wünsche lauten: "Mindestens ein Mitarbeiter fehlt: Einer wäre schön, zwei wären toll." Heinrich hat die Praxis in der Leipziger Südvorstadt seit 20 Jahren. Früher beschäftigte sie drei Physiotherapeutinnen und eine Rezeptionistin.
Seniorin: "Physiotherapie für mich lebensnotwendig"
Eine Patientin ist ihr schon länger treu: Annemarie Queck. Die 87 Jahre alte Opernsängerin, die jahrzehntelang ein Engagement in Weimar hatte, sagt: "Für mich ist Physiotherapie lebensnotwendig. Denn, wenn man 45 Jahre gearbeitet hat, dann ist der Körper natürlich auch etwas verbraucht. Mein Beruf als Opernsängerin war auch sehr anstrengend." Man müsse "auch im Alter darauf achten, den Körper fit zu halten. Sonst hat man zu viele Baustellen, die man dann nicht mehr in den Griff bekommt".
Physio Deutschland: "Situation dramatisch"
Der größte deutsche Verband "Physio Deutschland" bewertet die Situation "dramatisch". Der Vorstandsvorsitzende für Mitteldeutschland Michael Maiwald verweist auf eine Studie des Arbeitsamts für 2022: "Es gibt mehr Stellen als Bewerber. Man muss in der Regel ein halbes Jahr warten, bis überhaupt ein Bewerber kommt. Die Entwicklung nimmt seit Jahren zu, aber wir haben noch keine Lösung, wie wir das umkehren können."
Seien vor 20 Jahren zwei bis drei neue Klassen pro Jahr zur Ausbildung angetreten, ist es jetzt nur noch eine. Es gebe einen Rückgang um mehr als die Hälfte: "In absehbarer Zeit wird nicht viel Personal nachrücken. Dazu kommt, dass über 30 Prozent der Physiotherapeuten über 55 Jahre alt sind und irgendwann aufhören." Die Durchschnittszeit in der Physiotherapie beträgt nach Angaben von Maiwald nur sieben, acht Jahre. Auch das sei ein Faktor für die Misere.
Maiwald hofft auf Studium
Immerhin, die Ausbildung in Sachsen kostet nun keine 120 Euro mehr im Monat wie noch zu den Zeiten von Nicole Fiedler. Dem Verband reicht das aber nicht. Er setzt wie in vielen anderen Ländern auf ein Studium. Mit einem Master oder Bachelor wäre der Beruf attraktiver.
"Wie soll ich das noch 17 Jahre durchhalten?"
Therapeutin Manuela Blaschke gibt zu: "Bei all den Rahmenbedingungen ist es verständlich, dass das nicht gerade ein Traumjob ist. Ich liebe meinen Beruf wirklich sehr, aber wie ich das noch 17 Jahre durchhalten soll, weiß ich nicht."
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Leipzig | 25. Januar 2023 | 13:30 Uhr