Bürgergeld Mehr Geld für Arbeitslose: Lohnt sich Arbeit noch?

04. Februar 2023, 05:00 Uhr

Das Bürgergeld ist seit Anfang 2023 da. Mit dem Nachfolger von Hartz IV ist der Regelsatz gestiegen und es soll weniger Sanktionen geben. Wer für den Mindestlohn oder nur knapp darüber schuften geht, kann sich auch angesichts von Inflation und Rezession fragen: Lohnt sich Arbeiten noch?

Als Sandra Hoppensack den gelben Wagen auf dem Leipziger Markt aufschließt, ist sie seit fast drei Stunden auf den Beinen. Die alleinerziehende Mutter hat ihre Tochter in die Kita gebracht, nun stehen viele Stunden Käse verkaufen an. Die 36-Jährige verdient knapp über Mindestlohn. Sie ist eine von 7,5 Millionen Geringverdienern in Deutschland.

Die gelernte Friseurin kam durch einen Zufall vor zehn Jahren zum Job auf dem Käsewagen. Eine Freundin hatte sie vermittelt. Zweimal die Woche steht sie nun im gelben Wagen auf dem Marktplatz in Leipzig. An zwei weiteren Tagen arbeitet sie im Lager der Firma und mittwochs auch noch im Callcenter. Doch trotz zwei Jobs und insgesamt bis zu 32 Stunden pro Woche: "Auch das reicht nicht, um mich und meine Tochter zu ernähren", sagt Sandra Hoppensack. "Also ohne staatliche Leistung funktioniert es nicht. Wir kriegen zusätzlich noch Wohngeld und Kinderzuschlag. Halt Unterhalt für die Kleine. Damit kommen wir auch ganz gut hin."

Dennoch hat Sandra Hoppensack das Gefühl, dass sich ihre Arbeit lohnt: "Klar, finanziell könnte es besser aussehen, aber es geht beim Arbeiten für mich nicht nur ums Geld verdienen", sagt die blonde Frau. "Arbeit gibt mir ja auch ein bisschen Selbstwert, ein bisschen Kontakte. Es macht mir auch Freude." Zudem wolle sie ihrer Tochter ein Vorbild sein. Den Unterschied vom Bürgergeld zu Hartz IV finde sie auch nicht so groß. "Klar, kriegen die jetzt ein paar Euro mehr, aber wenn man bedenkt, dass jetzt alles teurer geworden ist, macht das nicht diesen Riesenunterschied."

Beim Arbeiten geht es für mich nicht nur ums Geld verdienen.

Sandra Hoppensack

Nachgerechnet: Alleinerziehende Mutter in Teilzeit mit zwei Jobs

Für Sandra Hoppensack lohnt sich das Bürgergeld nicht: Mit ihren zwei Jobs verdient sie ungefähr 1.100 Euro netto. Dazu kommen 250 Euro Kindergeld für ihre Tochter Lea. So hat sie 1.350 Euro pro Monat. Zum Vergleich: Als alleinerziehende Mutter würde ihr Anspruch mit dem Bürgergeld bei 1.451 Euro liegen. Allerdings kommt hinzu, dass Sandra Hoppensack Sozialhilfen erhält, die nur Arbeitnehmende bekommen können. Damit landet sie am Ende bei 1.640 Euro. Das sind fast 200 Euro mehr pro Monat. Außerdem erhält sie noch Unterhalt vom Kindsvater. Beim Bürgergeld würde der, ebenso wie das Kindergeld, vollständig angerechnet werden.

Dennoch, seit über das Bürgergeld diskutiert wird und schließlich im Herbst 2022 im Bundestag die Ablösung von Hartz IV beschlossen wurde, gibt es heftigen Streit darüber. Geplant waren unter anderem höhere Regelsätze, weniger Sanktionen und ein neues Schonvermögen. Erst nachdem die Opposition strengere Regelungen durchsetzte, wurde es beschlossen.

Vor allem in den Sozialen Netzwerken ist aber auch danach intensiv weiter diskutiert worden, ob sich Arbeit noch lohne. "Der Abstand zu den niedrigen Löhnen ist zu gering", lautet dort ein häufiger Kommentar. Ein anderer: "Wir sollen noch länger arbeiten, am liebsten bis 67 Jahre. Aber einem Teil der Hartzer wird das Faulenzen noch leichter gemacht."

Expertin: Die Unmotivierten sind Einzelfälle

Doch woher kommen die Befürchtungen, dass das Bürgergeld zum Beine hochlegen einladen würde? "Es ist die alte Diskussion seit Hartz IV", sagt Doktor Irene Becker. Die freiberufliche Wirtschaftswissenschaftlerin forscht seit über 20 Jahren zu Armut und Existenzminimum in Deutschland. "Ich frage mich, warum man ein ganzes System darauf abstellt, dass es vielleicht einige wenige gibt, die sich aus welchen Gründen auch immer verweigern, zurückgezogen haben und resigniert sind? Die Unmotivierten, das sind Einzelfälle."

Aus Sicht der Expertin sei es anders herum: "Die Menschen wollen Arbeit." Das sei gesellschaftlich anerkannt und jeder wolle in der Gesellschaft anerkannt sein. "Dieses schiefe Menschenbild ist in keiner Studie belegt und es ist schade, dass es von manchen politischen Gruppen immer wieder nach vorn katapultiert wird und einfach ignoriert wird, was Fachleute sagen."

Auch die Auffassung, dass sich Arbeit nicht mehr lohne, verneint Verteilungsforscherin Irene Becker: "Also, diesen Vorstellungen, Arbeiten würde sich nicht lohnen, liegen häufig sehr falsche Berechnungen zugrunde." Es müsse detailliert gerechnet werden. "Wir haben ein ausgefeiltes Sozialsystem. Da greifen vorrangige Leistungen, die dazu führen, dass man ein Auskommen hat." Diese Leistungen etwa nur für Arbeitnehmende sind: Wohngeld, Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende und Kinderzuschlag.

Diesen Vorstellungen, Arbeiten würde sich nicht lohnen, liegen häufig sehr falsche Berechnungen zugrunde.

Irene Becker Wirtschaftswissenschaftlerin

Wie gut geht es Menschen mit dem Bürgergeld?

Doch wie geht es Menschen, die vom Arbeitslosengeld II leben müssen? Familie Gellert wohnt in einem Haus in Regis-Breitingen – einer kleinen Stadt in Sachsen, südlich von Leipzig. Bettina und Peter Gellert leben dort mit zwei von Bettinas erwachsenen Kindern und ihrem Enkel. Jaden wächst als Pflegekind bei seinen Großeltern auf. Weil die beiden chronisch krank sind, wird ihr Leben seit Jahren über Hartz IV finanziert. Sie gehören zu den 5,4 Millionen Menschen, die im letzten Jahr Arbeitslosengeld II bezogen.

"Wir waren arbeiten. Für den Miststaat den Buckel krumm gemacht und am Ende kriegt man einen Tritt in den Arsch", schimpft Bettina Gellert. Früher habe sie im Hopfenbau gearbeitet, jetzt hat die 57-Jährige starkes Asthma. Peter Gellert sagt, er hätte bisher pro Monat nur 270 Euro vom Hartz IV-Satz zum Leben übrig. Auch er ist krank und kann nicht arbeiten, seit 2017 hat er ein Herzleiden, sein Antrag auf Erwerbsminderungsrente läuft noch.

Bettina Gellert meint, die Politik nehme ihre Probleme nicht wahr. Wie viel Bürgergeld sie nun ausgezahlt bekommen, wissen die Gellerts zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Die Post vom Amt liegt noch unsortiert auf einem Stapel. Gemeinsam mit der exactly-Reporterin Katharina Vorndran öffnen sie den Brief. Als Paar müssten sie nun 94 Euro mehr bekommen als mit Hartz IV. Doch am Ende kommt nach Abzug von Versicherung, Warmmiete und Strom nur ein Plus von zehn Euro für Peter Gellert heraus: 282,29 Euro.

Die Rechnung ist kompliziert: Bettina und Peter Gellert erhalten Bürgergeld sowie Kindergeld für ihren Enkel. Davon werden Versicherungen und selbstzutragende Nebenkosten für das Haus abgezogen und das Kindergeld angerechnet. Ausgezahlt werden am Ende 532 Euro. Nur weil sie Kostgeld von Sohn Patrick, der mit im Haus wohnt, und Erziehungsgeld aus Jadens Pflegekindsatz erhalten, kommen sie über die Runden. Final haben die drei damit 882 Euro im Monat zum Leben übrig. "So und damit musst du leben. Das ist ein Verbrecherstaat. Bin ich ganz ehrlich", sagt Bettina Gellert.

Einkommen mit Mindestlohn im Vergleich zum Bürgergeld

Der andere Sohn von Bettina Gellert ist auch regelmäßig im Haus: Jens. Der 30-jährige war 2016 für mehr als zwei Jahre im Gefängnis. Er war wegen Raubes verurteilt worden. Seitdem konnte er nie lange einen Job behalten. Jens erzählt MDR exactly, dass er gerade wegen psychischer Probleme krankgeschrieben sei und nun Bürgergeld erhalte. Aber ab Februar wolle er wieder arbeiten.

Mit dem Bürgergeld hat Jens als Alleinstehender aktuell 652 Euro zur Verfügung. Wenn er in Zukunft einen Job zum Mindestlohn annimmt, hätte er nach Abzug der Miete von 150 Euro für seine sehr günstige Einraumwohnung in Regis-Breitingen noch 1.350 Euro zum Leben. Er hätte mit Job fast 700 Euro mehr jeden Monat. Finanziell würde sich das Arbeiten für ihn also auf jeden Fall lohnen. Das ist für Jens aber nur ein Grund von vielen. "Man muss es so sehen: So ein Jungspund wie ich, der nix hat, körperlich gesehen. Der braucht auch nicht zuhause rumsitzen." Er wolle nicht als "Penner" gelten.

Wer von Armut bedroht ist

Für Jens und auch Sandra Hoppensack spielt der höhere Regelsatz durch das seit Anfang Januar geltende Bürgergeld also keine Rolle. Für die junge Mutter geht nach neun Stunden der Arbeitstag dem Ende entgegen. Sie ist alleinerziehend, so wie 2,6 Millionen Eltern in Deutschland. Alleinerziehende wie Sandra Hoppensack sind neben Arbeitslosen am stärksten von Armut bedroht – auch wenn durch Arbeit offenbar noch deutlich mehr Geld zum Leben bleibt, als durch Hartz IV oder nun das neue Bürgergeld.

Quelle: mpö

Dieses Thema im Programm: MDR+ | MDR exactly | 30. Januar 2023 | 17:00 Uhr

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