Vor Europa- und Kommunalwahlen Wählen mit 16: Wie ticken junge Leute auf dem Land?
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02. Juni 2024, 10:00 Uhr
Oft heißt es, dass Jugendliche politisch desinteressiert sind. In der Stadt Frohburg südlich von Leipzig versuchen junge Menschen, mit ihren eigenen Projekten etwas auf die Beine zu stellen. Doch sie sprechen auch von viel Unwissenheit, was fatale Auswirkungen haben kann.
Die Stadträte im Sitzungssaal im Bürgerzentrum Frohburg haben Platz genommen. Chris Weber sitzt gespannt im Zuschauerbereich. Denn heute wird über den künftigen Jugendclub im Frohburger Ortsteil Hopfgarten abgestimmt. Der 20-Jährige hat zusammen mit seinem Bruder Ben seit einem Jahr für den Treff für junge Leute gekämpft. "Wir hatten keinen Ort und saßen bei Regen in der Bushaltestelle, um uns zu treffen", sagt Weber. Viel Papierkram musste erledigt, viele E-Mails geschrieben werden, um ihr Ziel zu erreichen.
Heute nun der entscheidende Schritt: Die Hände der Stadträte heben sich, der Stadtrat stimmt der Gründung des Jugendclubs zu. Eine Überganglösung mit dem Gemeindehaus als Treffpunkt ist gefunden, bis der feste Standort aufgebaut ist. "Ich fühle mich klasse. Man merkt jetzt, dass man etwas in die Hand genommen hat und es geklappt hat", sagt der 20-Jährige zufrieden.
Werden Jugendliche nicht gehört, fühlen sie sich machtlos
Für Sozialarbeiter Rico Reifert sind das genau die Erfahrungen, die junge Leute brauchen. "Junge Menschen sollen lernen, dass sie sich in einer Demokratie einbringen können und das ihre Stimme und Meinung auch gehört wird", erklärt Reifert. Der 27-Jährige hat Chris und auch andere junge Leute in Frohburg bei ihren Ideen und Projekten unterstützt. Reifert sitzt als Ansprechpartner im Jugendbeteiligungsladen direkt am Markt in Frohburg, der zum größten Teil aus Landesmitteln finanziert wird.
Es verschwindet die Lobby für junge Menschen. Jugendliche Sichtweisen sind im Diskurs immer weniger präsent.
Wegen der Überalterung auf dem Land sei das keine Selbstverständlichkeit, dass jugendliche Ideen in der Kommunalpolitik Gehör finden, sagt Reifert. "Es verschwindet die Lobby für junge Menschen. Jugendliche Sichtweisen sind im Diskurs immer weniger präsent."
Wenn sich junge Leute nicht gehört fühlen, könne sich schnell Machtlosigkeit und Frustration einstellen. "Weltanschauungen, die ein sehr einfaches Bild vermitteln, können dann für Jugendliche immer attraktiver werden", erklärt Reifert. Das betreffe nicht nur Frohburg, sondern den gesamten ländlichen Raum. Der Sozialarbeiter bemerke etwa bei Festen, dass sich Jugendliche und junge Erwachsene auch hier in einem rechtsextremen Umfeld bewegen.
Wenn rechte Parolen keine Seltenheit mehr sind
Das bekommen auch die Frohburger Oberschüler Melissa Riedel und Oliver Pawelczyk mit. Für die 16-Jährigen sei es keine Besonderheit mehr, wenn auf einer Feier rechte Parolen gerufen oder auch der Hitlergruß gezeigt wird. "Ich habe das auf einer Feier erlebt", sagt Oliver. "Es wird aus Spaß gemacht. Wenn du was dagegen sagst, würden sie nur über dich lachen oder du riskierst Anfeindungen", sagt der 16-Jährige. Er nehme das nur noch hin: "Man ist leider abgestumpft." Oliver und Melissa bereitet die Entwicklung Sorgen.
Viel Unsicherheit beim Thema Politik unter jungen Leuten
Melissa Riedel glaubt, dass da viel Unwissenheit dahinter steckt. "Viele machen mit, ohne zu wissen, was das heißt", sagt die 16-Jährige. Dass viele wenig über Politik Bescheid wissen, zeige sich auch in den Gesprächen mit Freunden oder Mitschülern jetzt vor den Europa- und Kommunalwahlen. "Im Freundeskreis wird nicht wirklich darüber gesprochen. Für viele ist es ein schweres Thema und sie trauen sich nicht darüber zu reden", sagt Melissa, die wie Oliver bei den Europawahlen das erste Mal wählen darf.
Die Politik wirkt hochschwellig. Manche halten sich aus dem Thema raus, um nichts Falsches zu sagen
Oliver Pawelczyk stimmt zu: "Die Politik wirkt hochschwellig. Manche halten sich aus dem Thema raus, um nichts Falsches zu sagen." Viele Erstwähler, die er kenne, seien überfragt: "Viele sind allgemein unzufrieden, wissen aber nicht, was sie wählen sollen."
Dabei könne man selbst etwas bewegen, sagen Oliver und Melissa. Sie haben zusammen mit Sozialarbeiter Rico Reifert ein Umweltprojekt am Harthsee bei Frohburg umgesetzt. Wo sonst Hunderte Zigarettenstummel am Strand herumlagen, können diese nun in die von den Jugendlichen selbst gebauten Aschenbecher geworfen werden.
Zu wenig Orte und Initiativen zum Mitwirken
Die Demokratieprojekte in Frohburg sind für Johanna Niendorf Positiv-Beispiele. "Das sind unglaublich wichtige Erfahrungen, dass man da weiter dranbleibt", sagt Niendorf, die am Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratiefoschung in Leipzig arbeitet. Sie beobachte, dass junge Leute auch im ländlichen Raum politisch interessiert seien.
Doch es gebe größere Hürden, wie ein Forschungsprojekt aus dem Erzgebirgskreis zeigt, sagt Niendorf. Sie nennt das Beispiel einer Jugendgruppe von 16- bis 19-Jährigen, die über gesellschaftliche Fragen diskutieren. "Die Gruppe hat sich sehr vereinzelt gefühlt. Sie mussten lange Strecken fahren, um sich überhaupt zu treffen", schildert Niendorf. Es fehle an besseren ÖPNV, Vereinen, Initiativen und vor allem Treffpunkten, an denen sich junge Leute treffen können. Digitaler Austausch könne echte Kontakte nicht ersetzen.
Individuelle Ideen und Meinungen weniger gefragt
Eine weitere Hürde sei eine verstärkte Demokratieskepsis bis -ablehnung auf dem Land, so Niendorf. "Diese Stimmung wirkt sich auch auf Jugendliche aus." Für eigene Ideen oder Ideale einzustehen, erfordere dort viel mehr Einsatz und Kraft. Das Beispiel des Erzgebirgskreises zeigt: "Es gibt dort eine starke Orientierung auf traditionelle Werte. Es ist wichtiger, sich an der Gemeinschaft zu orientieren und sich dieser unterzuordnen, als eine individuelle eigene Position zu entwickeln."
Es gibt dort eine starke Orientierung auf traditionelle Werte. Es ist wichtiger, sich an der Gemeinschaft zu orientieren und sich dieser unterzuordnen, als eine individuelle eigene Position zu entwickeln.
Sich schon anders als der Norm entsprechend zu kleiden, könne als Bedrohung und Störung der Harmonie der Gemeinschaft wahrgenommen werden, sagt Niendorf. Auch wenn der Erzgebirgskreis ihr zufolge mit der starken Identitätsbindung seiner Bewohner eine Besonderheit darstellt, gelten diese Tendenzen auch für die anderen ländlichen Regionen Sachsens.
Selbst in der Schule mitreden und gestalten
In Kindergärten und Schulen fehlt es Niendorf zufolge aktuell noch an ausreichenden Möglichkeiten für Schüler selbst mitzuwirken. "Da erleben viele der Schüler ein Ohnmachtsgefühl. Die Räume, in die die jungen Leute täglich gehen müssen, können sie gar nicht gestalten."
Anlaufstellen für junge Leute bekannter machen
Mehr Möglichkeiten sich selbst einzubringen, fehlt auch Melissa Riedel an ihrer Schule, sagt die 16-Jährige. In Frohburg gebe es immerhin den Jugendbeteiligungsladen und das Schülerzentrum. Viele Jugendliche wüssten jedoch nichts davon, meint Melissa. Auch sie habe erst spät davon erfahren. "Das müsste man einfach mehr zeigen, dass es diese Orte schon gibt."