NÄCHSTE GENERATION Den Osten nicht aufgeben: Mit Worten die Provinz aufrütteln?
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18. Januar 2022, 04:00 Uhr
Im ländlichen Raum leben Jugendliche, deren Stimme oft kein Gehör findet. Autorin, Rapperin und Spoken Word-Künstlerin Jessy James LaFleur will das ändern. Das Klischee, dass in Ostsachen alle rechts wählen, nervt sie. Abseits der Großstädte will sie in der Lausitz die erste Akademie für Spoken Word aufbauen und mit Literatur ein neues Selbstbewusstsein in die Region bringen. Die Belgierin wählte nach Stationen weltweit Sachsen zu ihrer neuen Heimat – ein, wie sie sagt, kulturell hartes Pflaster.
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Es riecht nach Teppichresten und Linoleum. Die Tapeten sind vergilbt, doch Jessy James LaFleur kommt aus dem Strahlen nicht heraus. Die Belgierin führt die ersten Jugendlichen durch leeren Etagen des Löbauer Gründerzeithauses, für die sie große Visionen hat: "Hier werden wir eine Bühne einbauen, dort ein Aufnahmestudio für Podcasts und oben gibt es Schlafmöglichkeiten für Künstlerresidenzen."
2022 will sie hier eine Akademie für Spoken Word entstehen lassen. Einen Ort, an dem sich junge Menschen in Literatur und dem gesprochenen Wort intensiv weiterbilden können. Unterstützt durch Fachkräfte sollen hier Texte, Buch- und Bühnenprojekte entstehen, im Austausch auch mit der Stadtbevölkerung. Ähnliche Konzepte gibt es bereits im englischsprachigen Raum. Demnächst also auch in der Oberlausitz.
Was ist Spoken Word?
Spoken Word vereint Poesie mit Performance. Große Aufmerksamkeit brachte dem Genre zuletzt der Auftritt der Lyrikerin Amanda Gorman vor dem US-Kapitol. Die Stile der mündlich vorgetragenen Texte können durch Elemente bzw. Einflüsse wie z.B. Rap, Hip-Hop, Dadaismus, Musik oder Theater variieren. Angelehnt an die Rezitation der Antike erlangte die Kunstform Popularität im 20. Jahrhundert in den USA. Weltweit bekannt wurde das Genre zuletzt durch die Verbreitung von Poetry Slam, aber auch durch Verbindungen mit Musik.
Es soll der Hotspot für Spoken Word in Deutschland werden, genau genommen in Europa.
Selbstbewusstsein stärken durch Literatur
Was nach Luftschloss klingt, ist bereits ziemlich konkret. Die erste Förderung steht, sodass das Projekt vorerst für ein Jahr als Pop-Up-Konzept beginnen kann, eine Bildungsstätte auf Basis der Poesie und des Theaters. Noch brauchen die Räumlichkeiten etwas Sanierungsarbeit, bis es losgehen kann. Doch die Initiatorin arbeitet beharrlich ihrem Ziel entgegen: Menschen zu mehr Sichtbarkeit verhelfen, indem sie die eigene Stimme finden und damit mehr Selbstbewusstsein.
Das sind Geschichten, die hörst du auf keiner Podiumsdiskussion. Es gibt hier noch andere Lebensrealitäten im ländlichen Raum. Hier leben auch Jugendliche und hier wählen nicht alle rechts.
Seit Jahren gibt sie Workshops in Haupt- und Oberschulen, in Willkommensklassen und Gefängnissen. Ansprechen will sie besonders jene, die weniger Zugang zu Kunst haben. Denn sie kennt fehlenden Rückhalt, erlebte Mobbing und häusliche Gewalt, brach die Schule ab und zog als Jugendliche von zu Hause weg. In dutzenden Ländern begann sie von vorn, erlebte Rückschläge und fand Halt im Schreiben und der Musik. Diesen Halt will sie heute anderen geben.
Über das Format NÄCHSTE GENERATION
Das dokumentarische Format "MDR KULTUR – Nächste Generation" nimmt die Arbeit junger Kulturschaffender aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in den Blick. Die Werke der Künstlerinnen und Künstler wollen Debatten anregen, verschiedene Aspekte unserer Gesellschaft, wie Gleichberechtigung oder Klimakrise, kommentieren und gleichzeitig Ideen für die Zukunft entwerfen.
Aus Belgien in die Oberlausitz – warum?
Über die Jahre hat sich Jessy James LaFleur international einen Namen gemacht, ist renommiert als Bühnenkünstlerin und gefragt als Moderatorin und Organisatorin von Literaturveranstaltungen. Viel Zeit verbringt sie in Zügen auf dem Weg zu ihren Arbeitsorten, für die sie mitunter Tagesreisen auf sich nimmt. Besonders jetzt, da sie am östlichsten Rand Deutschlands lebt.
Über das Programm "Stadt auf Probe" kam sie 2019 nach Görlitz, weil sie gehört hatte, dass es hier viele Möglichkeiten für Kulturschaffende gibt. Ein Gefühl, das ihr in Ostdeutschland und speziell Ostsachsen immer wieder gespiegelt wurde, kennt die Ostbelgierin selbst gut: "Neben Französisch und Flämisch ist Deutsch zwar Amtssprache in Belgien, doch mit nur 78.000 Einwohnern ist die deutsche Gemeinschaft, der ich angehöre, eine Minderheit. Für die Belgier war ich daher nie belgisch genug und für die Deutschen nie deutsch genug. Versuch mal, damit in der Pubertät klarzukommen."
Das Gefühl mit einer anderen Mentalität und auch Sprache aufzuwachsen, habe ich hier im Osten wiedergefunden und vielleicht fühle ich mich deshalb auch wohl.
Voller Einsatz für die Region
Ein gewisses Misstrauen nimmt sie in ihrer neuen Heimat trotzdem wahr, gegenüber Neuankommenden und ungewohnten Kulturangeboten. Doch dass die Region und damit alle Menschen nach außen häufig abgestempelt würden, rege sie auf. Denn es gäbe hier viele, die sich bis an den Rand der Erschöpfung für die Region einsetzen.
Daher will sie neue Räume etablieren, in denen Menschen sich mitteilen können. Mit Blick auf ihre geplante Spoken Word-Akademe in Löbau sagt sie: "Klar, ist das ein Risiko, gerade in einer Stadt wie Löbau mit gerade einmal 15.000 Einwohnern. Aber wir versuchen das jetzt erstmal, das ist es mir wert. Und vielleicht kann daraus mehr entstehen, natürlich auch im Austausch mit der Bevölkerung."