Arbeitskampf Protestforscher: "Es wäre ein fatales Zeichen, das Streikrecht einzuschränken"
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25. März 2024, 12:08 Uhr
Lokführer, Flugpersonal, Bus- und Bahnfahrer - immer öfter gehen Beschäftigte auf die Barrikaden und streiken für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Doch wie viel Streik ist gerechtfertigt und wann schießen die Gewerkschaften über das Ziel hinaus? Darüber hat MDR SACHSEN mit dem Protestforscher Piotr Kocyba von der Uni Leipzig gesprochen. Die Streikwelle in Deutschland ist auch Thema bei "Fakt ist!" am Montag im MDR FERNSEHEN.
Herr Dr. Kocyba, in letzter Zeit jagte in Deutschland ein Streik den nächsten. Viele sind davon genervt, obwohl es im europäischen Vergleich bisher relativ wenig Streiks gibt. Sind die Deutschen zu empfindlich?
Empfindlich würde ich nicht sagen. Es gibt eben national ganz unterschiedliche Streik- und Protestkulturen. In Frankreich geht es schneller mal zur Sache. Und auch in Polen kann man beispielsweise bei den aktuellen Bauernprotesten sehen, dass beispielsweise vor Ministerien schon einmal Reifen angezündet werden.
Diesbezüglich geht es in Deutschland recht gesittet zu. Die deutsche demokratische Kultur ist sehr konsensorientiert. Da gibt es ja häufig schon intensive Gespräche, bevor es überhaupt zu Warnstreiks kommt. Insofern sind Streiks eher die Ausnahme als die Regel.
In Ostdeutschland gab es bis in die 2000er-Jahre hinein Massenarbeitslosigkeit. Da haben sich viele gar nicht getraut, zu streiken. Ändert sich daran gerade etwas oder existiert nach wie vor eine Art Untertanenmentalität?
Es gab ja Anfang der 1990er-Jahre große Proteste und teilweise auch Streiks wegen der Privatisierung durch die Treuhand. Von daher ist es nicht so, dass man sich in Ostdeutschland nicht für seine Arbeitnehmerrechte eingesetzt hat. Ich würde aber behaupten, dass viele dieser Aktionen ohne Erfolg geblieben sind. Das hat dann zu der enttäuschenden Erfahrung geführt, dass man sich trotz Streiks und Protesten nicht durchsetzen konnte.
So ähnlich war das im Übrigen dann auch während der Proteste gegen die Hartz-IV-Reformen, die insbesondere auch in Ostdeutschland viele Menschen, und das teilweise für Jahre, mobilisieren konnten. Mittlerweile hat sich der Wind jedoch gedreht. In Zeiten des Fachkräftemangels sind Betriebe auf Arbeitnehmende angewiesen. Von daher gibt es ein anderes Selbstverständnis und auch ein gesteigertes Selbstbewusstsein, wenn man sich zum Beispiel gewerkschaftlich organisiert und für seine Rechte eintritt.
Beliebt macht man sich in Deutschland mit dem Arbeitskampf trotzdem nicht. Die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft dominiert den öffentlichen Diskurs. Warum ist das so?
Das hängt damit zusammen, dass man sich in Deutschland sehr stark über die Wirtschaft und Titel wie "Exportweltmeister" definiert. Es ist daher oft zu sehen, dass die Perspektive der Arbeitgeber schnell in der öffentlichen Debatte übernommen wird. Das passiert auch, weil Arbeitgeberverbände hervorragend organisiert, gut vernetzt und finanziell üppig ausgestattet sind.
Gleichzeitig gibt es harsche Kritik an den Gewerkschaften. Vergessen wird dabei beispielsweise beim Lokführerstreik, dass das Management der Bahn ebenfalls die Verantwortung dafür trägt, durch entsprechende Angebote und Verhandlungsstrategien längere Streikwellen abzufangen.
In der Politik werden schon Stimmen laut, das Streikrecht einzuschränken. Wie bewerten Sie diese Vorstöße?
Wir hatten eine Inflationskrise. Arbeitnehmende haben daher das gute Recht, nach Kompensationen zu rufen. Wenn wir in solch einem Moment mit Verschärfungsdebatten um die Ecke kommen und Arbeitnehmenden, die sich demokratisch organisieren und für ihre Interessen eintreten, diese Rechte als Reaktion einschränken, dann ist das ein fatales Zeichen.
Gerade in Zeiten des Rechtsrucks, den wir momentan in der Gesellschaft erleben, ist die gewerkschaftliche Selbstorganisation einer der Wege, um demokratisch sozialisiert zu werden. Zudem sollte man immer daran denken, dass das Recht streiken zu dürfen, auch in Deutschland blutig erkämpft worden ist.
Neben dem finanziellen Aspekt sehen manche den Arbeitskampf auch als Treiber für Innovationen. Was halten Sie von dieser Sichtweise?
Das ist ein wichtiger Punkt. Es geht ja bei Streiks nicht immer nur ums Geld, sondern auch um bessere Arbeitsbedingungen. Und natürlich können hier Gewerkschaften wie die Gewerkschaft der Lokführer (GDL), die über eine große Durchschlagskraft verfügen, schneller Neuland betreten. Sie haben die Möglichkeit, neue Arbeitszeitmodelle zu erkämpfen, die dann auch woanders Nachahmung finden können. In Zeiten des Fachkräftemangels sind bessere Arbeitsbedingungen einer der zentralen Schlüssel, Mitarbeitende zu gewinnen und an sich zu binden.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | "Fakt ist!" | 25. März 2024 | 22:10 Uhr