Warnstreik Das neue Selbstbewusstsein der Gewerkschaften
Hauptinhalt
02. März 2024, 09:00 Uhr
Niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen, fehlende Tarifverträge: Es wird gerade immer häufiger und länger gestreikt. Die Gewerkschaften bekommen auch im Osten Deutschlands immer neue Mitglieder. Das hat seine Gründe auch in der Vergangenheit.
- Ein Trend bei den Gewerkschaften: nah dran an der Belegschaft.
- Frust über niedrigen Lohn und lange Schichten bei den Angestellten.
- Die Unternehmen erzielen oft Millionengewinne.
- Die wenigsten Tarifverträge gibt es in Sachsen.
In dicke Jacken gehüllt stehen 15 Mitarbeitende vor den Toren der Firma Regiobus in Mittweida. Seit 4:00 Uhr morgens streiken die Busfahrerinnen und Busfahrer. Wie so oft im öffentlichen Nahverkehr der vergangenen Monate. Auch daran zeigt sich, dass die Gewerkschaften auch im Osten wachsen. Doch woran liegt das?
Sina Rothe rollt mit ihrem schwarz-weißen Kleinwagen an den Pavillon mit den wehenden Verdi-Fahnen. Für die Verdi-Gewerkschaftssekretärin ist es ein großer Kampftag. "Wir haben heute die ersten 24 Stunden von 48 Stunden Streik vor uns. Für mich gehört dazu, bei meinen Betrieben auch vor Ort zu sein und die Leute zu begrüßen, insbesondere die Neumitglieder." Fast alle Busfahrten an diesem Tag fallen aus. Als ein Bus an den Streikenden vorbeifährt, gibt es Pfiffe für den Kollegen. "Oh, böser Blick", kommentiert Rothe das Geschehen.
Wir sind in der Vergangenheit oft dort gewesen, wo es gebrannt hat. Jetzt haben wir gemerkt, dass wir vorher anfangen müssen.
Ingo Albrecht ist bei Regiobus seit zehn Jahren Busfahrer und im Betriebsrat. Er koordiniert für Verdi den Warnstreik und wirbt auch Mitglieder im Betrieb. Inzwischen seien es etwa 35 Mitglieder von insgesamt 470 Mitarbeitenden im Betrieb. Es helfe, dass die Gewerkschaften inzwischen präsenter seien. "Wir sind in der Vergangenheit oft dort gewesen, wo es gebrannt hat", sagt Verdi-Mitarbeiterin Rothe. "Jetzt haben wir gemerkt, dass wir vorher anfangen müssen."
Ein Trend bei den Gewerkschaften
Näher dran an der Belegschaft vor Ort. Das ist laut Stefan Schmalz ein Trend bei den Gewerkschaften. Der Soziologe forscht an der Universität Erfurt zu Arbeitskämpfen und analysiert: "Es gibt diesen Begriff, dass man so ein bisschen weggegangen ist von der Betreuungsgewerkschaft hin zur Erschließungsgewerkschaft." Gewerkschaften seien genau dorthin gegangen, wo es etwa noch keine Betriebsräte gab. "Da wurden viel stärkere Ressourcen zur Verfügung gestellt und auch Stellen dafür geschaffen."
Auch das hat offenbar dazu geführt, dass etwa Verdi gerade Rekordeintritte vermeldet und den größten Mitgliederzuwachs in Mitteldeutschland hat: mit 3,2 Prozent. Das sah in den vergangenen Jahren anders aus. Nach der Wiedervereinigung verloren die Gewerkschaften massiv an Mitgliedern. Waren 1991 noch fast zwölf Millionen Menschen im Deutschen Gewerkschaftsbund Mitglied, sank die Zahl auf zuletzt unter sechs Millionen. 2023 gab es nun erstmals seit 2001 einen leichten Anstieg.
Frust über niedrigen Lohn und lange Schichten
Sina Rothe ist bereits seit drei Uhr auf den Beinen. An diesem Tag will die Gewerkschaftssekretärin insgesamt fünf Betriebshöfe besuchen. Über zwölf Stunden ist die Alleinerziehende an Streiktagen unterwegs: "Meine Intention ist, dass wenn die Kollegen halb eins am Betriebshof sind und es gibt Anfragen oder uns fehlen Streikposten, dann dürfen die sich auf mich verlassen können und dann bin ich da", sagt sie.
Wenig später ist sie in Freiberg, auch dort streiken Kollegen von Regiobus. 1600 Euro netto betrage das Einstiegsgehalt für die Busfahrer, so Rothe. 22 Prozent mehr Lohn fordern sie. Die Verhandlungen sind festgefahren. Gibt es keine Einigung, droht ein unbefristeter Streik. "Die Fahrer hauen alle ab. Das ist das schlimme daran", sagt Mitarbeiter Nils Steiger. "Da kann ich auch bei Lidl Regale einräumen. Dann bin ich schon nach acht Stunden daheim und hab den gleichen Lohn." Der 52-Jährige ist seit sieben Jahren bei Regiobus: "Du hast eine verdammt hohe Verantwortung. Das sind teilweise über 50 Mann im Bus. Man muss sich immer vor Augen halten, was ich hier mache."
Seit Jahresbeginn hat Ver.di bei Regiobus 20 Prozent mehr Mitglieder. Und auch heute hält Sina Rothe einen neuen Mitgliedsantrag in den Händen. "Ohne Gewerkschaft geht es nicht", sagt Lothar Schauder, der gerade eingetreten ist. Er war früher bereits Mitglied, ist dann aufgrund der zu wenigen Abschlüsse und zu hoher Kosten ausgestiegen. Doch alleine sei es sehr schwer in den Verhandlungen mit seinem Chef.
Das Unternehmen erzielt Millionengewinne
Die Mitarbeiter von SRW Metalfloat in Espenhain bekommen ihren Chef seit Monaten nur im Vorbeifahren zu sehen, etwa in einer schwarzen Limousine. Seit August verweigert das Recyclingunternehmen jegliche Tarifgespräche. Ein Großteil der 180 Beschäftigten ist seit November im Streik mit Unterstützung der IG Metall. In wenigen Tagen könnten sie den Rekord für den längsten Streik in der deutschen Geschichte brechen – mit dann über 123 Tagen.
Es geht um acht Prozent mehr Lohn, eine Erhöhung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds auf 1500 Euro und eine 38 Stunden Woche. Und darum, dass die Kollegen im Westen 600 Euro mehr am Monatsende auf dem Zettel haben.
Daniela Räthel arbeitet seit Jahren in dem Unternehmen. Dabei steht sie täglich acht Stunden im Dreischichtsystem am Fließband und sortiert Schrott. Für ihre Arbeit bekam sie bislang 13,57 Euro pro Stunde, knapp ein Euro über Mindestlohn. Den Beschäftigten ist das zu wenig. Auch Daniela Räthel hat als Alleinerziehende zu kämpfen: "Die höheren Preise, Spritkosten, Strom, Lebensmittel, das zehrt dann schon."
Das Unternehmen bietet zwar eine Lohnerhöhung an, will einen Tarifvertrag aber um jeden Preis verhindern, obwohl es am Standort ein Viertel seines Umsatzes macht und hier Millionengewinne erzielt. Ein genereller Trend in Deutschland.
Hatten 1998 in Westdeutschland noch 76 Prozent der Beschäftigen einen Tarifvertrag, waren es 2022 nur noch 52 Prozent. Noch schlechter sah es in Ostdeutschland aus. Dort sank die Tarifbindung im gleichen Zeitraum von 63 auf 45 Prozent.
Fehlende Tarifverträge in Sachsen
Nun sehen auch immer mehr Beschäftigte in der IG Metall einen starken Partner, um auf Augenhöhe mit Unternehmen zu verhandeln. 2023 hatte die Gewerkschaft im Osten 20 Prozent mehr neue Mitglieder, doppelt so viele wie im Westen. Ein Grund: Im Osten gibt es viel seltener eine tarifliche Bindung für die Betriebe. In Sachsen gibt es sogar die wenigsten Tarifverträge.
Heute ist die ganz, ganz überwiegende Mehrheit der sächsischen Mitglieder im Arbeitgeberverband in der Metall- und Elektroindustrie ohne Tarifbindung.
Das liege laut Malte Lübker von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung vor allem an den Arbeitgeberverbänden: "Es gibt eigentlich keine strukturellen Gründe dafür, dass Sachsen Schlusslicht ist." Doch: "Es gab früh eine verbandspolitische Entscheidung, auch Mitglieder ohne Tarifbindung aufzunehmen", so Lübker. "Und heute ist die ganz, ganz überwiegende Mehrheit der sächsischen Mitglieder im Arbeitgeberverband in der Metall- und Elektroindustrie ohne Tarifbindung mit dabei. Und deswegen fehlt in Sachsen eine wichtige Stütze für die Tarifbindung auf Arbeitgeberseite."
Sachsens Regierung uneinig über Vergabegesetz
In Thüringen und Sachsen-Anhalt gibt es Vergabegesetze, die tarifliche Vorgaben bei öffentlichen Aufträgen beinhalten. In Sachsen könnte eine Überarbeitung des Gesetzes, wie es SPD und Grüne fordern, mehr Druck auf die Arbeitgeberseite ausüben. Dafür spricht sich auch Sachsens Sozialministerin Petra Köpping (SPD) aus. Doch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sperrt sich dagegen.
Wir sind nicht die Erfinder eines solchen Vergabegesetzes. Deswegen ist es für mich schon unverständlich, dass wir das nicht zusammen hinkriegen.
"Viele Länder haben ja ein Vergabegesetz", erklärt Petra Köpping gegenüber MDR Investigativ. "Wir sind nicht die Erfinder eines solchen Vergabegesetzes. Und deswegen ist es für mich schon unverständlich, dass wir das nicht zusammen hinkriegen."
Verdi-Gewerkschaftssekretärin Sina Rothe ist inzwischen in Oelsnitz angekommen und besucht dort den Warnstreik der Beschäftigten des Regionalverkehrs im Erzgebirge. Dort ist man auch bereit, dauerhaft in den Streik zu gehen. Busfahrer Tilo Effenberger sagt, dass er auch so lange streiken würde, bis die Arbeitgeber einknicken. "Egal wie lange." Denn für das Geld wolle niemand mehr diese Arbeit machen. "Ich gehe Vollzeit arbeiten. Ich bin pünktlich auf der Matte, jeden Tag, wenn mein Dienst ruft", sagt er. Dafür müsse er auch um drei Uhr nachts aufstehen, bei Wind und Wetter.
"Aber mittlerweile langt es nicht mehr, um ein ausgefülltes Leben als Familienvater von zwei Kindern zu führen", sagt Effenberger. Er habe sich in den vergangenen drei Jahren keinen Urlaub mehr leisten können. "Deswegen haben wir das Zepter jetzt in die Hand und das müssen wir jetzt ausnutzen in der Gewerkschaft." Es wird wohl ein Jahr voller intensiver Arbeitskämpfe: Es stehen für über zwölf Millionen Beschäftigte Tarifverhandlungen an.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 28. Februar 2024 | 20:15 Uhr