Tag der Deutschen Einheit Festakt im Landtag: "Es gibt kein Demokratiedefizit im Osten"
Hauptinhalt
03. Oktober 2024, 18:23 Uhr
Kein Bock auf Demokratie in Sachsen? Der diesjährige Festredner zum Tag der Deutschen Einheit im Landtag widersprach dieser Einschätzung deutlich. Er erinnerte daran, wie aktiv sich Bürgerinnen und Bürger nach der Neugründung Sachsens in die Politik eingemischt haben. Die Bereitschaft sieht er auch heute noch. Als demotivierenden Hemmschuh empfindet er die komplexe Bürokratie.
Beim Festakt zur Deutschen Einheit im Sächsischen Landtag hat der Präsident des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes, Matthias Grünberg, an die Aufbruchstimmung im Land vor 34 Jahren erinnert. "Es gab ein großes Bedürfnis sich einzubringen. Vorschläge für die Sächsische Verfassung kamen aus der Mitte der Gesellschaft. Ein Verfassungsentwurf wurde sogar in der Dresdner Tageszeitung 'Union' (heute DNN) abgedruckt", erinnerte sich der diesjährige Festredner.
Später hätten die Menschen tausende Briefe und Postkarten an den Landtag geschrieben, um zu sagen, was ihnen gefällt und was nicht. "Sie wollten sich beteiligen", sagte der Jurist und fügte an: "Auch heute gibt es keine Gleichgültigkeit. Die Menschen haben ein Interesse am Staat und am Gemeinwesen."
Wahlbeteiligung als Zeichen für vitale Demokratie
Die öffentliche Diskussion über mögliche Demokratiedefizite in Ostdeutschland halte er daher für verfehlt. "Das hat mich überrascht. Bei den drei Landtagswahlen, die zuletzt im Osten stattfanden, gab es jeweils eine Wahlbeteiligung von über 70 Prozent. Wie kann man da von einem Demokratiedefizit sprechen", fragte Grünberg. Gleichzeitig räumte er ein, dass es heutzutage für viele Menschen durch das Nebeneinander von Europa-, Bundes- und Landesrecht nicht immer leicht sei zu verstehen, wie Entscheidungen zustande kämen.
Bürokratie demotivierend für Bürger
Lähmend und demotivierend sei auch die Bürokratie. "Berufsgruppen wie zum Beispiel Handwerker, Ärzte und Lehrer müssen 30 Prozent ihrer Zeit dafür aufwenden. Die fehlt ihnen für ihre eigentliche Aufgabe." Dennoch sei der Bürokratieabbau angesichts der großen Zahl an existierenden Normen komplex. Er hoffe trotzdem, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auch in Zukunft einbrächten. "Für mich war es 1989 beeindruckend zu sehen, wie stark der Wille nach Veränderung bei den Menschen in der früheren DDR war. Ich hoffe, das wir an diese Zeit anknüpfen können", sagte Grünberg.
Ostdeutsche mit zu wenig Selbstbewusstsein
Zuvor hatte auch Sachsens Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) für mehr Optimismus im Freistaat geworben. "Ich lehne das Niedergangsgerede ab. Wir können stolz darauf sein, was wir in Sachsen in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen haben." Allerdings hätten Ostdeutsche oft das Gefühl, dass sie nicht selbst die Autoren dieser Erfolgsgeschichte seien.
"Ich finde es gefährlich, wenn sich ein Dagegensein als Lebensgefühl ausbreitet. Vielmehr müssen wir sagen, wofür wir sind", sagte Dulig und blickte auf Sachsens Industriegeschichte zurück. "Wir haben hier Computer und Autos erfunden, als anderswo noch Rüben angebaut worden sind." Auch heute habe man es selbst in der Hand, erfolgreich zu sein. "Aber dafür müssen wir unsere Hausaufgaben machen."
Trotz Streit Demokratie nicht infrage stellen
Sachsens neuer Landtagspräsident Alexander Dierks (CDU) machte klar, dass auf diesem Weg auch Streit legitim sei, dabei jedoch die Demokratie nicht infrage gestellt werden sollte. "Die Demokratie ist das Wertvollste, was wir in diesem Land haben. Und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, in anständigen, gerne streitigen Debatten zu zeigen, dass wir in der Lage sind, auf diesem Fundament die zentralen Fragen der Menschen in unserem Land zu lösen", sagte Dierks.
BSW betont soziale Defizite
Am Rande der Veranstaltung äußerte sich auch Sabine Zimmermann vom Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) zum Tag der Deutschen Einheit. Trotz großer Errungenschaften sei die soziale Einheit zwischen Ost und West noch immer nicht erreicht, sagte sie MDR SACHSEN. "Wir haben im Osten Deutschlands um bis zu 16 Prozent niedrigere Löhne und auch bei der Rente wurde bis heute kein deutschlandweit einheitliches Niveau erreicht."
Defizite gebe es zudem bei Führungspersönlichkeiten. "Nur zehn Prozent der deutschen Manager oder Führungspersönlichkeiten sind in den neuen Bundesländern geboren, obwohl 20 Prozent der Bevölkerung Ostdeutsche sind." Die ostdeutsche Perspektive fließe dadurch nur unzureichend in die öffentliche Debatte ein, sagte Zimmermann.
MDR (sth)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 03. Oktober 2024 | 19:00 Uhr