Ein Mann mit Brille und in schlichtem Anzug steht an einem Pult und redet gestikulierend. 9 min
Nach Natalie Amiri hält der Soziologe Steffen Lau im Schauspielhaus seine "Dresdner Rede". Mehr im Audio. Bildrechte: Sebastian Hoppe

Soziologe und Autor Steffen Mau bei Dresdner Rede: Politik ist risikoscheu und fantasielos

10. März 2025, 13:14 Uhr

Menschen auf der ganzen Welt seien überfordert vom rasanten Wandel, der sich aktuell vollzieht – das diagnostizierte der Soziologe Steffen Mau bei seiner Dresdner Rede und spricht in diesem Zusammenhang von "Veränderungsstress". Viele Menschen würden die zahlreichen Krisen und Veränderungen über sich ergehen lassen oder sich sogar zurück in eine vermeintlich bessere Vergangenheit wünschen. Mit dieser Analyse erklärt Mau die gesellschaftlichen Schwierigkeiten der vergangenen Jahre.

Im Rahmen seiner Dresdner Rede hat der bekannte Soziologe und Buchautor Steffen Mau internationale Krisen analysiert. Er sprach am Sonntag unter dem Titel "Warum fallen uns gesellschaftliche Veränderungen so schwer?" im Dresdner Staatsschauspiel über weltweit sich beschleunigende Veränderungen, die Erosion gewohnter Verhältnisse und über Stressreaktionen in Politik und Gesellschaft.

Der Berliner Hochschulprofessor ist eigentlich für seine Analysen des schleppenden deutschen Vereinigungsprozesses und der sich hartnäckig haltenden ostdeutschen Besonderheiten bekannt. Nun ordnet er diese Ermüdungserscheinungen auch international ein.

Mau erläutert "Veränderungsmüdigkeit" in Dresden

Die gegenwärtigen politischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Turbulenzen seien mit den Umwälzungen und Entwertungen zu Beginn der Industrialisierung im frühen 19. Jahrhundert vergleichbar, ordnete Steffen Mau sein Thema historisch ein. "Alles Gewohnte steht zur Disposition!" Der Soziologe sprach von "Hyperdynamisierung". Die Auswirkungen gefährdeten mittlerweile auch demokratische Systeme. An die Stelle aktiver Mitwirkung trete "passives Erleiden" einer Beschleunigungseskalation und der "Wunsch, dass jemand die Pausentaste drückt."

Gemeint sind Krisenerscheinungen wie verschärfter globaler Wettbewerb, unberechenbare Folgen der Digitalisierung, Energiewende oder der Klimawandel. Mau konstatiert bei den Bürgern eine "wachsende Neigung, sich dem Wandel zu verweigern". Statistiken würden eine "Veränderungsmüdigkeit" belegen, so Mau. Nur ein Viertel sei noch froh über die Dynamik im Land.

Alles Gewohnte steht zur Disposition!

Steffen Mau in seiner "Dresdner Rede"

Steffen Mau: Ein Mann mit Brille schaut direkt in die Kamera.
Steffen Mau analysierte in Dresden weltweite Verwerfungen. Bildrechte: Marten Koerner

Stress besonders im Osten spürbar

Hier kommen dann auch die Ostdeutschen ins Spiel, die seit 1990 "diesem Stress besonders ausgesetzt sind". Der Grundoptimismus, der im Aufbruch aus der SED-Herrschaft Ende 1989 noch beflügelt habe, sei Misstrauen gewichen.

Aber auch der Bonus besonderer Flexibilität der liberalen Gesellschaften des Westens sei erschüttert. Dynamik gehört immerhin zum Wesen der Marktwirtschaft. Auch die lang beschworene "kognitive Mobilisierung" durch breite Bildung, die gegen autoritäre Verführungen schütze, trage nicht mehr.

Kultur

Buchcover von Sachbüchern zum Thema Ostdeutschland mit Audio
Diese fünf Bücher über Ostdeutschland sollte man gelesen haben: Christina Morina – "Tausend Aufbrüche", Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann – "Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat", Steffen Mau – "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt", Ines Geipel – "Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück", Sascha-Ilko-Kowalczuk – "Freiheitsschock" Bildrechte: Collage: Siedler Verlag / Hanser Verlag / Suhrkamp Verlag / S. FISCHER / Verlag C. H. Beck

Politik zwischen Fortschritt und radikalem Umbruch

Der Soziologe erwies sich bei seiner Dresdner Rede einmal mehr als Wissenschaftler und nicht als Missionar. Appelle an individuelle Verhaltens- und Einstellungsänderungen standen hinter nüchternen Analysen zurück. Steffen Mau ließ sogar Verständnis für den Überforderungsstress vieler Bürger erkennen, für Sehnsüchte nach einer vermeintlichen Normalität, die mit einer angenommenen stabilen Vergangenheit gleichgesetzt wird.

Ausführlich befasste er sich mit politischen Umgangsweisen mit den multiplen Herausforderungen, die er in vier Kategorien einteilte. Zunächst benannte er "progressive Politik", die Menschen zwar auch notwendige Veränderungen zumute, sie aber als Mitgestalter des Wandels und damit ihrer Zukunft begreife. Das setze allerdings Orientierung und Ideale voraus, die der Redner in der politischen Elite zunehmend vermisst. Wichtiger Punkt sei das Prinzip der Gerechtigkeit.

Auch einem aufgeklärten Konservatismus billigt er Reformbereitschaft und ein Mitwirkungsangebot für Bürger zu. Nur eben bei ermäßigtem Tempo mit "Verschnaufpausen". Rechter Populismus sei hingegen eindeutig auf Regression, also Rückschritt in eine vermeintlich glorreiche Vergangenheit ausgerichtet. Die "Abwehr sich ändernder Weltverhältnisse" gehe einher mit Schuldzuweisungen etwa an Migranten und der Beschwörung eines pseudoharmonischen einheitlichen Volkswillens. Die vierte Kategorie der Disruption, also radikaler Brüche, führen derzeit die USA vor. Ein Zusammenspiel zwischen Reaktion und Tech-Szene, das Entstehen einer neuen Oligarchie.

Mark Zuckerberg, Jeff Bezos, Sundar Pichai und Elon Musk vor der Amtsvereidigung des US-Präsidenten in der Rotunde des US-Kapitols
Prägende Köpfe des Silicon Valley waren bei der Amtseinführung von Donald Trump dabei. Bildrechte: picture alliance/dpa/AP Pool | Julia Demaree Nikhinson

Appell für Demokratie in Dresden

Hier war bei Steffen Mau doch ein mahnender Unterton zu spüren. "Wie schnell kann Demokratie ins Autoritäre kippen", mahnte er und warnte vor politischem Eskapismus, also der Verweigerung ihrer Mitwirkung durch Bürger. "Wenn eine träge Gesellschaft auf eine risikoscheue Politik trifft, dann bedeutet das, dass Reformen auf die lange Bank geschoben und verschleppt werden." Der Politik mangele es an programmatischer Fantasie und gestalterischer Kraft, um einen neuen Gesellschaftsvertrag zu formulieren.

So verstanden auch befragte Zuhörer den Redner hauptsächlich. Einigen war der Vortrag etwas zu akademisch, andere fanden den nüchternen Ton in diesen aufgeregten Zeiten passend. Was Warnungen Maus nicht ausschloss, eine zumutungsfreie Politik garantiere noch keine Zukunft. Sowohl zu viel als auch zu wenig Wandel seien gefährlich.

Redaktionelle Bearbeitung: tsa, bh

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 10. März 2025 | 08:10 Uhr

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